January 5, 2020
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Das Politik-Jahresreview 2019

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PROTESTE: DIE WELT IM SCHILDERMEER

Es war ein gutes Jahr für die Verkäufer von bunten Stiften, allerdings leider auch für die von Gummigeschossen, Wasserwerfern und scharfer Munition. In der gesamten Welt kam es zu massiven, teils gewalttätigen Protesten – und nicht in einem Rutsch, wie im Arabischen Frühling 2011, sondern scheinbar ohne größere Zusammenhänge.

In Chile destabilisierte die Wut über Ungleichheit die Piñera-Regierung und könnte zu einer neuen Verfassung führen; in Ecuador musste die Moreno-Regierung zeitweise aus der Hauptstadt fliehen, nachdem sie sich an Austeritätspolitik versucht hatte.

Im LibanonIran und Irak ging es vor allem um Korruption und die schlechte gesamtwirtschaftliche Lage (sowie bei Letzterem um unerwünschten iranischen Einfluss). Die Reaktion war der Rücktritt des Premiers und eine Regierungskrise (Libanon) bzw. ein blutiges Niederschlagen der Proteste (Irak, Iran).

Besonders präsent war Hongkong. Ein unliebsames Gesetz, welches letztlich kassiert wurde, löste eine Eskalationsspirale aus, die nur knapp vor dem Tabuwort Unabhängigkeit zur Ruhe kam. Seit März protestieren Hunderttausende Menschen für mehr Autonomie von der Zentralregierung in Peking. China und das Ausland wissen nicht so recht, wie sie darauf reagieren sollen. Immerhin: Eine militärische Eskalation ist unwahrscheinlich.

Weitere Länder mit großen Protesten: Pakistan, Tschechien, Kolumbien, Indien, Haiti, Frankreich, Spanien, Ungarn, Russland, Georgien und viele weitere. Zu Bolivien, Sudan, Algerien und Venezuela gleich mehr.

"The Story of 2019: Protests in Every Corner of the Globe" – The New Yorker, Dezember

STAATSSTREICHE: THE UGLY, THE UGLY, AND THE UGLY.

STAATSSTREICHE: THE UGLY, THE UGLY, AND THE UGLY

In einigen Ländern war es mit Protesten nicht getan: Im Sudan wurde Diktator Bashir nach 30 Jahren gestürzt. Nach einem angespannten (und blutigem) stand-off zwischen prodemokratischer Opposition und Militär einigten sich beide Seiten auf eine Übergangsphase, die derzeit das Militär anführt und ab 2021 die Opposition übernimmt.

In Venezuela ernannte sich Parlamentschef Guaidó im Januar zum Interimspräsidenten und rief im April zum Staatsstreich gegen Präsident Maduro auf. Dieser geschah offenbar auch fast, wäre das Militär nicht in letzter Sekunde zurück zu Maduro geschwenkt. Nun befindet sich das heruntergewirtschaftete Land in einem komplizierten politischen Equilibrium.

Was wird aus Venezuela? Lies mehr in unserem eigenen Explainer-Artikel.

In Bolivien führten Proteste über mutmaßlichen Wahlbetrug (und den Versuch, länger im Amt zu bleiben, als vorgesehen) Ende November zum Rücktritt von Präsident Morales – deutlich erwünscht vom Militär. Während eine Übergangsregierung Neuwahlen auf den Weg bringt und Morales-Unterstützer mit -Gegnern auf den Straßen kollidieren, diskutiert die internationale Presse, ob es sich nun um einen Putsch oder die Bewahrung der Demokratie handelt.

In Algerien war zwischenzeitlich ein Zehntel der Bevölkerung auf der Straße, um den Rücktritt von Präsident Bouteflika zu erzwingen. Im April gab dieser nach zwanzig Jahren sein Amt auf.

"Was there a coup in Bolivia?" – Economist, November
"Many wanted Morales out. But what happened in Bolivia was a military coup" – The Guardian, November

DIESE VERFLIXTEN WAHLEN

2019 zeigte einigen Ländern, dass Demokratie kein Selbstläufer ist:

In Spanien kam es zur vierten Wahl in vier Jahren, weil Premier Sánchez seinen Rückhalt im Parlament verlor. Das Ergebnis bot wenig neue Antworten und zwang Sánchez' Sozialisten im November zu der Koalition mit der linken Podemos, welche sie nach Wahl #3 noch vermeiden wollten.

Auch Israel weiß nicht so recht, wer regieren soll. Im April erlangten weder Alt-Premier Netanjahu noch Herausforderer Gantz eine klare Mehrheit, im September sah es ähnlich aus. Eine Große Koalition will niemand. Im März 2020 gehen die Israelis zum dritten Mal an die Urnen.

In Italien löste Premier Salvini im August eine Regierungskrise aus, weil er die Zeit reif fand, Koalitionspartner M5S vom Thron zu stoßen. Das Manöver ging nach hinten los und die M5S bildete eine Koalition mit den Sozialdemokraten. Salvinis Lega war raus aus der Regierung und Rom wurde zum harmonischeren Partner für die EU. Trost für Salvini: Er ziert die Lega künftig in ihrem Parteinamen. 

Ähnlich erging es Österreich. FPÖ-Chef Strache geriet in einen Untreueskandal, der als Ibiza-Affäre in die Annalen der Geschichte einging und seine Partei aus der Koalition katapultierte. Trotz kurzer Regierungskrise blieb die ÖVP unter Sebastian Kurz am Drücker, nun steht wohl eine Koalition mit den Grünen bevor. Konservativ-Grün? Das dürfte in ganz Europa genau beobachtet werden.

INNENPOLITIK: ENDLICH MAL ACTION

Spätestens 2019 bekam man zu spüren, dass die Merkel-Ära zu Ende geht. Die Union verbrachte das Jahr im heimlichen Nachfolgestreit, welchen CDU-Chefin Kramp-Karrenbauertrotz zahlreicher Fauxpas und wachsendem Unmut mittels eines riskanten Manövers beim Parteitag im November vorläufig für sich entschied. Die Konkurrenz um Merz ist im Wartemodus. AKKs Überraschungsernennung ins Verteidigungsministerium warf bislang hingegen kaum politische Dividenden ab.

Für die SPD war 2019 wahlweise noch unangenehmer als bereits 2018 oder ein Befreiungsschlag: Erst gab Parteichefin Nahles auf, dann begab sich die Partei in eine knifflige Nachfolgersuche. Am Ende stand die überraschende Schlappe für Vizekanzler Scholz und der Sieg des linken Flügels unter Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Die Groko überlebte dennoch – vorerst, denn die SPD will nachverhandeln.

Derweil konnten Grüne und AfD die Tektonik der deutschen Politik zwar nicht weiter verschieben, das Geschaffte aber deutlich konsolidieren und sich auf hohem Prozentniveau (ca. 21%, ca. 15%) einpendeln.  

Befindet sich Deutschland in einem Rechtsruck? Der Mord an Walter Lübcke und der antisemitische Anschlag in Halle befeuerten die öffentliche Debatte, ob Rechtsextremismus genügend bekämpft wird. Mehrheitsmeinung unter Soziologen: Kein Rechtsruck, aber bestehendes Potenzial wird stärker aktiviert.

"Wider die Mär vom Rechtsruck. Die AfD mobilisiert bestehendes Potenzial" – Tagesspiegel, November

BREXIT: GANZ NAH AN DER ZIELLINIE

2019 wurde vom Gespenst des No-Deal-Brexits gezeichnet. Im März verschoben die Briten den EU-Austritt erstmals, weil sie nicht rechtzeitig einen Deal durchs Parlament bekamen. Im April folgte die zweite Verschiebung bis Ende Oktober. Im Mai (foreshadowing?) ging die glücklose Zeit von Premier May zu Ende und Boris Johnson übernahm. Dessen Beginn war dermaßen zittrig, dass manch Beobachter bereits prüfte, was denn der bisherige Rekord für die kürzeste Zeit als Premierminister war. Doch Johnson hielt sich: Nach kurzer Konfrontation mit dem Parlament wurde der Brexit bis Ende Januar 2020 verschoben und eine Neuwahl ausgerufen. Premier Johnson gewann haushoch und hat den Brexit jetzt quasi in der eigenen Hand.

"Brexit: What is in Boris Johnson's new deal with the EU?BBC, Oktober

USA #1: IMPEACHMENT UND PRIMARIES

Im Juli wurde ein dubioses Telefonat zwischen US-Präsident Trump und Ukraines Präsident Zelensky öffentlich – für die Demokraten war es der Tropfen, der das Impeachment-Fass zum Überlaufen brachte (was die recht ereignislos verpufften Russlandermittlungen im März nicht vermocht hatten). Sie machten Trump zum erst dritten Präsidenten der US-Geschichte, der sich einem Amtsenthebungsverfahren stellen muss.

Warum hinter dem Manöver mehr steckt, als sich auf den ersten Blick zeigt (und warum das Risiko enorm ist), erfährst du in unserem eigenen Explainer-Artikel.

Dabei hatte das Jahr für Trump gut gestartet: Nach vier Wochen konnten Demokraten und Republikaner im Januar den längsten Regierungs-Shutdown aller Zeiten beenden.

Die Demokraten suchen derzeit ihren Präsidentschaftskandidaten: Der moderate Joe Biden ist nach wie vor Favorit, doch die Demokraten machen aus ihrem Linksruck keinen Hehl. Mit Bernie Sanders und Elizabeth Warren sind gleich zwei Kandidaten aus dem linken Lager Biden auf den Fersen. Wildcard: Der moderate Bürgermeister Pete Buttgieg.

USA #2: GEOPOLITIK À LA TRUMP

Die Trumpsche Außenpolitik hatte 2018 an Fahrt aufgenommen; 2019 bekam die Welt das zu spüren. Im Mai störte der Iran mutmaßlich den Schiffsverkehr im Persischen Golf, weswegen die USA ihre Truppenpräsenz vor Ort ausweiteten. Im Juni ein Schockmoment: Der Iran schießt eine US-Drohne ab, Präsident Trump bricht offenbar erst im letzten Moment einen Militärschlag ab. Seitdem zwar keine weitere Eskalation (abgesehen von graduellen Verstößen gegen den Atomdeal), doch auch wenig Verbesserung.

Von der Turtelei mit Nordkorea blieb 2019 nur wenig übrig. Der zweite Trump-Kim-Gipfel im Februar in Vietnam scheiterte grandios, seitdem tun sich die beiden Seiten schwer, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Die USA wollen eine vollständige Denuklearisierung gegen allmählichen Sanktionsabbau, Nordkorea fordert das Gegenteil. Bis Ende des Jahres gab Pjöngjang den USA Zeit, sich neue Vorschläge auszudenken.

Im Februar begannen die USA, mit den Taliban offiziell über einen Friedensprozess in Afghanistan zu sprechen. Diese liefen auch durchaus produktiv – bis ein Taliban-Anschlag im September zum Abbruch führte. Im Dezember wurden die Gespräche wieder aufgenommen.

Trumps Entscheidung, einen Teil der US-Truppen aus Nordsyrien abzuziehen, führte im Oktober zum türkischen Einmarsch und stärkte Syriens Präsident Assad. Vom Trumpschen Friedensplan für Nahost wurde seit Juli sehr wenig gehört.

"Is There Still a Deal to Be Done With Iran?"The Atlantic, Juni
"How to Stop Kim-Jong Un (by 6 Experts)Time, n.a.

EU: DIE MACRON-SHOW

Nach der Wahl im März realisierten die Mitgliedsstaaten (sprich: Vor allem Deutschland und Frankreich), dass sie sich auf keinen der Spitzenkandidaten einigen konnten - und warfen deswegen das gesamte Prinzip über Bord und machten Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin. Diese konnte im Dezember ihre Arbeit aufnehmen. In der Zwischenzeit sorgte Frankreichs Präsident Macron dafür, dass es nicht langweilig wurde: Er stellte die Nützlichkeit der NATO infrage ("Hirntod"), blockierte Aufnahmegespräche für Albanien und Nordmazedonien und forderte einen Kurswechsel gegenüber Russland.

Für die Rechtspopulisten in der EU ging 2019 mager aus: In der EU-Wahl blieben sie klar hinter den Erwartungen. Stattdessen profitierten vor allem liberale und grüne Parteien. Nur in Spaniens November-Neuwahl schaffte die rechte Partei Vox einen großen Sprung nach vorne.

"Riven with tensions, Europe is in for a stormy and fractious autumn"The Guardian, Juni
"Von der Leyen's ambitious plans come with a price tag" – DW, November

NAHER OSTEN: INSTABIL WIE EH UND JE

Positiv: 2019 wurde der Islamische Staat offiziell für besiegt erklärt – zumindest von Kurdenmilizen und dem Weißen Haus. Andere Beobachter sind sich weniger sicher. Die Gruppe verlor im März zwar ihr gesamtes Territorium, würde nun aber zu einer "klassischen" Terrormiliz werden, die aus ihren Verstecken in Irak und Syrien Anschläge verübt.

In Syrien machte das Assad-Regime weitere Fortschritte, das gesamte Land unter Kontrolle zu bringen. Die einzige größere Rebellenenklave Idlib wird belagert. Im Norden Syriens attackierte die Türkei im Oktober die von Kurden kontrollierten Gebiete und richtete eine "Pufferzone" ein. Das führte zu einer beinahe-Konfrontation mit Syrien, welche Regionalmacht Russland stoppte.

Mutmaßlich iranische Aktivitäten blieben auch 2019 eine regelmäßige Erscheinung: Nadelstiche gegen Israel aus Syrien heraus, Einflussnahmen auf die irakische Politik, die Störung des Schiffsverkehrs im Persischen Golf und ein Raketenangriff auf die saudi-arabische Ölförderung.

"War by Proxy: Iran's Growing Footprint in the Middle East" – CSIS, März

CHINA UND INDIEN: KEIN GANZ SAUBERES SPIEL

2019 brachte China die schwierigste Außenpolitik seit mehreren Jahrzehnten: In den USA ist Opposition zu Peking eines der wenigen Themen, auf welches sich beide Parteien einigen können; in der EU wird immer öfter Härte gegen China gefordert; und in Australien wurden Gesetze gegen chinesischen Einfluss erlassen. Die Gründe? Dubiose Handelspraktiken, dubiose Investitionspraktiken (samt Technologiediebstahl) und immer robusteres geopolitisches Auftreten.

Das Land bekam auch ein ganz neues PR-Problem: Zwei separate "China Cables"-Leaks zeigten weitreichende Kontroll- und Umerziehungsmaßnahmen gegen die muslimische Uighuren-Minderheit im chinesischen Xinjiang.

In Indien konnte Premier Modi seine Position in der Wahl im April ausbauen. Galt die Macht des Hindu-Nationalisten 2018 noch als etwas wackelig, so ist davon nicht mehr die Rede. Im Oktober nahm Indien das vormals autonome Kaschmir im Handstreich unter Kontrolle und sorgte so für eine angespannte Situation mit Dauerrivalen Pakistan.

Was noch geschehen ist

+++ Mazedonien benennt sich zu Nordmazedonien um, beendet Namensstreit mit Griechenland +++ Die Lage in der Ostukraine entspannt sich ein wenig; Russland und die Ukraine sprechen erneut im Normandie-Format +++ Trudeau bleibt nach giftigem Wahlkampf knapp Premier in Kanada +++ Bougainville stimmt für Unabhängigkeit von Papua-Neuguinea, Weg voraus unklar +++