Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)
- In Madagaskar haben Gen-Z-Massenproteste zum Sturz der unbeliebten Rajoelina-Regierung geführt - mittels eines Putsches einer Armeeeinheit.
- Der Oberst der Einheit, Michael Randrianirina, ist jetzt Übergangspräsident.
- Das folgt einer gewissen Ironie: Andry Rajoelina wurde 2009 selbst als Hoffnungsträger einer jungen Generation und mithilfe derselben Armeeeinheit ins Präsidentenamt geputscht.
- Grund für die Unzufriedenheit waren die schwere Misswirtschaft im Land und zahlreiche Korruptionsvorwürfe.
- Madagaskar erlebt akut eine Versorgungskrise, rund um bis zu 20-stündige Strom- und Wasserausfälle.
- Das Land wächst seit Jahrzehnten nur bemerkenswert schwach und ist trotz zahlreicher Rohstoffe unter den ärmsten Ländern der Welt; ein Großteil der Wirtschaft ist Subsistenzlandwirtschaft.
- Auf den Putsch blicken viele Madagassen relativ gelassen: Politische Einmischung der Armee ist im Land keine Seltenheit; bislang ging die Macht später stets zurück an zivile Regierungen. Eine Garantie, dass es wieder so kommt, gibt es allerdings nicht.
Die Lage_
(2 Minuten Lesezeit)
Aufgeregte Wochen in Madagaskar. Ende September brachen Massenproteste in der südostafrikanischen Inselnation aus, drei Wochen später ist die Regierung abgetreten, der Präsident aus dem Land geflohen und die Streitkräfte haben die Macht übernommen. Ein Oberst, Michael Randrianirina, hat sich bereits als Präsident vereidigen lassen – im Anzug statt im Flecktarn.
In diesen Wochen demonstrierte das Land eindrucksvoll eine Reihe an Dynamiken, welche sich auch anderswo auf dem Kontinent und in der ganzen Welt beobachten lassen. "Gen-Z-Proteste" sind inzwischen ein Begriff für sich selbst geworden, welcher den politisch entladenen Ärger einer jungen Generation ausdrückt. Die knapp 20- bis 30-Jährigen stellen in vielen Entwicklungsländern allein durch ihre schiere Anzahl eine politisch ernstzunehmende Kraft dar, zumindest, wenn sie ein gemeinsames Ziel mobilisiert. Gen-Z-Proteste führten in Kenia zu Kurswendungen; in Nepal, Bangladesch und Sri Lanka führten sie sogar zum Sturz der Regierungen.
Ein zweites Phänomen ist die Einmischung der Armee. Afrika ist eine politische Rolle der Streitkräfte beileibe gewohnt und viele Länder werden von (früheren) Generälen angeführt. Allerdings schien der Einfluss der Militärs jahrzehntelang zu sinken – und erlebt nun seit 2020 doch ein Revival. Die gesamte Sahelzone, von Guinea am Atlantik bis zum Sudan am Roten Meer, fiel seitdem nach und nach unter die Kontrolle von Militärjuntas (im Sudan löste der Streit zweier Generäle zudem einen heftigen Bürgerkrieg aus).
Massenproteste und Militär treffen oft aufeinander, denn die Streitkräfte möchten die großen Umstürze in ihren Ländern nicht immer tatenlos aussitzen. Manchmal schlagen sie im Auftrag der Regierung die Proteste nieder (die Beispiele sind zu zahlreich), manchmal rollen sie das Ergebnis eines erfolgreichen Regierungsumsturzes zurück (z.B. Ägypten 2013) und manchmal bleiben sie eben doch passiv (z.B. Tunesien 2011, Nepal 2025).

In Madagaskar hat das Militär bereits gewählt, eine zentrale Rolle einzunehmen. Damit sind zwei Beispiele am relevantesten für das Land: Im Sudan schlossen sich die Streitkräfte erst den Protestlern an und ließen sich auf eine Machtteilung mit Zivilisten und einen demokratischen Übergang ein, nur um letztlich doch die Macht an sich zu reißen. In Bangladesch arbeiten die Streitkräfte dagegen allem Anschein nach konstruktiv mit Protestlern und Übergangsregierung am demokratischen Übergang mit.
Sudan und Bangladesch bilden damit die zwei sehr unterschiedlichen Szenarien, welche Madagaskars Pfad skizzieren könnten. Doch wie kam es überhaupt so weit?
Madagaskar verstehen_
(6 Minuten Lesezeit)

Wer im Internet nach Informationen zu Madagaskar sucht (oder es zumindest vor den jüngsten Entwicklungen tat), stößt in erster Linie auf Naturdokus, Reisevorschläge und Informationen über die Biodiversität. Kein Wunder: Madagaskar ist erdgeschichtlich seit sehr langer Zeit vom afrikanischen Festland abgetrennt, etwa 90 Millionen Jahre, was zu einer besonders hohen Anzahl an endemischen Arten geführt hat – also solchen, die nirgendwo sonst vorkommen. Die madagassische Artenvielfalt ist dabei nicht nur einzigartig, sondern auch groß: Es gibt rund 200.000 Arten, während es in Deutschland knapp über 70.000 sind. Madagaskar gilt drum als eines von 17 "Megadiversitätsländern" und verdient sich den Platz auf der Liste, obwohl es deutlich kleiner als China, Indien oder Brasilien ist.
Gut zu wissen: Aufgrund seiner Artenvielfalt und -einzigartigkeit wird Madagaskar von Medien, Buchtiteln und den Madagassen selbst gelegentlich als "achter Kontinent" bezeichnet.
Lange isoliert
Rund 32 Millionen Menschen leben auf der Insel. Die erste permanente Besiedlung fand vermutlich erst ab 500 n. Chr. statt, was Madagaskar zu einer der spätesten Erschließungen des Menschen macht. Die Besiedlung geschah dabei nicht durch Südostafrikaner, sondern durch Austronesier: Ein Sammelbegriff für Menschen, welche Sprachen der austronesischen Sprachfamilie sprechen und sich durch ihr Seefahrertum weitläufig im indopazifischen Raum ausbreiteten. Sie erreichten Madagaskar vermutlich von Indonesien aus. Einige Jahrhunderte später kamen Migranten vom afrikanischen Festland hinzu.
Die Madagassen lebten jahrhundertelang relativ isoliert und in zahlreichen Stammestümern. Die Araber bauten im Mittelalter Handelsposten auf und lieferten die ersten schriftlichen Überlieferungen von der Insel, doch versuchten sie keine größere Kolonialisierung. Anders die Portugiesen ab dem 16. und die Briten, Niederländer und Franzosen ab dem 17. Jahrhundert, deren Anläufe jedoch allesamt an Krankheiten, Versorgungsschwierigkeiten und Konflikten mit der Lokalbevölkerung scheiterten. Stattdessen wurde Madagaskar zu einem Hub für Piraten und für den transatlantischen Sklavenhandel – was einen gewissen Reichtum brachte und erste organisierte Königreiche entstehen ließ.
Gut zu wissen: Die Exotik der Insel aus europäisch-kolonialer Sicht inspirierte Ideen wie die "Juden-Hypothese", wonach die Madagassen ihre Herkunft auf die antiken Israeliten zurückführen könnten. Die These erreichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine gewisse Prominenz und verwies auf mutmaßliche sprachliche, physiologische und kulturelle Ähnlichkeiten (letzteres vermutlich aufgrund früherer arabischer Einflüsse). Der zeitweise diskutierte Madagaskar-Plan der Nazis – die erzwungene Vertreibung der europäischen Juden auf die Insel – könnte davon inspiriert gewesen sein. Moderne Forscher kritisieren die These in ihrer Gesamtheit, doch genetische Tests an bestimmten madagassischen Volksgruppen lassen zumindest Verbindungen zum Nahen Osten zu.

Kolonialzeit, Unabhängigkeit, Marxismus
Die erste Vereinigung Madagaskars unter einem indigenen Königreich gelang im frühen 19. Jahrhundert. Bis 1896 fiel die Insel jedoch an Frankreich, welches die Insel ein halbes Jahrhundert lang als Kolonie kontrollieren würde. Die Schwächung Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg und eine Welle globaler Dekolonialisierung stärkten die madagassische Unabhängigkeitsbewegung, und Madagaskar erreichte 1960 friedlich die Unabhängigkeit als Republik.
Madagaskar durchlief seit 1960 vier Republiken, was bedeutet, dass sich die Verfassung bedeutsam änderte. Beim ersten Mal folgte das auf öffentliche Wut über Präsident Philibert Tsiranana, welcher von Frankreich eingesetzt worden war und eine frankophile Politik verfolgte. Seine Regierung wurde 1972 von Massenprotesten aus dem Amt getrieben und durch die marxistisch-leninistische Zweite Republik unter Vizeadmiral Didier Ratsiraka ersetzt.
Ratsiraka richtete Madagaskar zur Sowjetunion und zugleich in Richtung Autarkie (nach nordkoreanischem Vorbild) aus, was gepaart mit einer sozialistischen Wirtschaftspolitik und der Ölkrise 1973 die Lebensstandards im Land rasant heruntergehen ließ. Bis 1979 ging Madagaskar bankrott und Ratsiraka musste Bedingungen internationaler Geldgeber wie der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) akzeptieren, um den Staatsapparat noch finanzieren zu können. In den 1980ern war der Sozialismus nur noch nominell erkennbar. Die Wirtschaft blieb jedoch desaströs und führte zu Massenprotesten, welche 1991 gewaltsam eskalierten und Ratsiraka aus dem Amt trieben.
Demokratie und die Krise 2009
Die Dritte Republik brachte 1992 die Mehrparteiendemokratie nach Madagaskar zurück und schärfte die Gewaltenteilung; sie stärkte außerdem das Parlament gegenüber dem Präsidenten. Sie wurde allerdings regelmäßig destabilisiert, von Korruptionsvorwürfen, politischen Streitigkeiten, wirtschaftlichem Abschwung und dem Versuch mehrerer Präsidenten, ihre Macht auszubauen. 2009 kam es zu einer politischen Krise, weil Oppositionsführer Andry Rajoelina den Rücktritt des Präsidenten Marc Ravalomanana verlangte – und aufgrund besagter Korruptions- und Autoritarismusvorwürfe wusste Rajoelina die Bevölkerung auf seiner Seite.
Die Krise zog sich über vier Monate und führte aufgrund des robusten Vorgehens der Sicherheitskräfte zu 135 Toten. Sie endete, als sich das Militär auf die Seite der Opposition stellte und den Präsidentenpalast stürmte, welchen Rajoelina umgehend bezog. Er ließ sich zum Präsidenten ernennen, während der Amtsinhaber aus dem Land floh. Rajoelina und seine Unterstützer dementieren, dass es sich um einen Putsch gehandelt habe. Es sei stattdessen ein "direkter Ausdruck von Demokratie" gewesen, so eine Erklärung der Regierung damals.

Die Ära Rajoelina
Eine zentrale Rolle spielte die mächtige CAPSAT-Einheit des Militärs. Sie ist gewissermaßen das Personalbüro der Armee und kontrolliert damit auch die Gehaltszahlungen. Den damit einhergehenden Einfluss hat sie über die Jahre in tiefe Netzwerke in den gesamten Streitkräften und in der madagassischen Wirtschaftselite umgemünzt. Es war die Meuterei von CAPSAT, welche Ravalomanana zur Amtsaufgabe zwang; und es war CAPSAT, welches Rajoelina im Anschluss als Nachfolger durchsetzte.
Gut zu wissen: Rajoelina wuchs in einer wohlhabenden Familie auf und wurde früh zu einem erfolgreichen Unternehmer (nach einer kurzen Karriere als DJ). Bereits mit 33 Jahren war er der wichtigste Medienmogul auf Madagaskar und im selben Jahr wurde er zum Bürgermeister der Hauptstadt Antananarivo gewählt. Mit 34 Jahren wurde er als Präsident vereidigt und war damit der jüngste Regierungschef der Welt zu jener Zeit. Seine energetische Persönlichkeit brachte ihm den Spitznamen "TGV" ein, nach dem französischen Hochgeschwindigkeitszug. Ein weiteres Kuriosum: Rajoelina bewarb einen in Madagaskar entwickelten Kräutertee namens "Covid-Organics" als Heilmittel gegen Covid-19. Studien dazu gab es nie.
Rajoelina ließ 2010 eine neue Verfassung beschließen und begründete damit die Vierte Republik. Madagaskar blieb dabei durchaus demokratisch; künftige Wahlen waren frei und fair. Rajoelina akzeptierte sogar, dass er vom Obersten Gerichtshof von der Präsidentschaftswahl 2013 ausgeschlossen wurde, weil er seine Dokumente nicht rechtzeitig eingereicht hatte (er hatte zuvor angedeutet, nicht an einer Wiederwahl interessiert zu sein). Und bei der Wahl 2018 konnte der geflohene Ex-Präsident Ravalomanana wieder antreten, auch wenn er gegen Rajoelina – welcher nun doch erneut das Amt anstrebte – verlor.
Das Ende des Hochgeschwindigkeitszugs
Rajoelina befand sich heute mitten in seiner insgesamt dritten Amtszeit, als die Proteste begannen. Er versuchte es erst mit der Entlassung einzelner Minister, dann der gesamten Regierung, doch konnte die Dynamik nicht bremsen. Also verhängte er Ausgangssperren und ließ die Sicherheitskräfte robust gegen die Demonstrationen und damit einhergehenden Ausschreitungen vorgehen; bei Zusammenstößen und Plünderungen starben schätzungsweise 22 Menschen. Dass er außerdem einen General zum neuen Premier ernannte, werteten Beobachter als Warnung an die Protestler.
Nach zwei Wochen stellte sich ausgerechnet die CAPSAT-Einheit, welche Rajoelina einst ins Amt gebracht hatte, gegen ihn. Sie besetzte Regierungseinrichtungen, übernahm die Kontrolle über das Militär und zwang Rajoelina (wie einst seinen Vorgänger) in die Flucht. Doch wo CAPSAT 2009 den Oppositionsführer zum Präsidenten ernannte, griff es diesmal selbst zu: Oberst Michael Randrianirina ließ sich zum Übergangspräsidenten ausrufen.
Warum es zu den Protesten kam_
(3 Minuten Lesezeit)

Kein Wasser, kein Strom
Die Proteste in Madagaskar sind in erster Linie ein Fingerzeig auf die katastrophale wirtschaftliche Lage im Land. Der akute Auslöser waren ständige Strom- und Trinkwasserausfälle, welche die Bevölkerung verärgern und bis zu 20 Stunden am Tag andauern. In Antananarivo sorgen die Stromausfälle dafür, dass ein teures neues Netz aus Seilbahnen, welches als öffentliches Verkehrsmittel dienen sollte, die meiste Zeit stillsteht und praktisch als ständige Erinnerung für die Dysfunktionalität des Staates über den Köpfen der Menschen schwebt. Die Seilbahnstationen wurden bei den Protesten besonders häufig in Brand gesetzt.
Gut zu wissen: Der Stein, der die politische Krise ins Rollen brachte, könnte der Ausfall der Wasserversorgung an der Universität Antananarivo gewesen sein. Weil Duschen, Waschbecken und Toiletten dort nicht mehr funktionierten, aber weder die Universitätsleitung, noch der Wasserversorger oder die Lokalbehörden das Problem zu lösen versuchten, begann ein 25-jähriger Medizinstudent, Sitzstreiks zu organisieren. Sie vergrößerten sich schnell und eskalierten womöglich in die Massenproteste – wobei der exakte Verlauf nicht eindeutig nachzuvollziehen ist.
Im Kern gehen die Probleme aber weit länger zurück. Madagaskar ist heute unter den sechs ärmsten Ländern der Welt mit 580 USD nominalem BIP pro Kopf. Seit der Unabhängigkeit 1960 ist das BIP pro Kopf um die Hälfte zurückgegangen, der größte Rückgang eines Landes ohne Bürgerkrieg. Inflationsbereinigt und kaufkraftbereinigt (nach purchasing power parity, PPP) ist das BIP pro Kopf seit 1990 lediglich um 61 Prozent gestiegen, auf 1.883 USD. Das sind weniger als 2 Prozent Wachstum pro Jahr, was für ein Entwicklungsland keinen guten Wert darstellt. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum hat das einst ärmere Mosambik mit einer Beinahe-Versiebenfachung aufgeschlossen und selbst das viel reichere Südafrika hat eine Verdreieinhalbfachung auf 15.500 USD geschafft.
Was die Zahlen in der Realität bedeuten, ist, dass nur etwa ein Drittel der Madagassen Zugang zu Elektrizität besitzt. Drei Viertel leben unterhalb der Armutsgrenze. Dabei hat das Land große Vorräte an Mineralien und Edelsteinen, und ist der größte Vanilleproduzent der Welt – doch Madagaskar geht zutiefst ineffizient mit seinen natürlichen Reichtümern um. Wo erfolgreich gefördert wird, fließt nur wenig über (öffentliche) Investitionen zurück in die breitere Wirtschaft.
Die Wirtschaft des Vorvorjahrhunderts
Ein Großteil der Madagassen sind Subsistenzbauern, welche für die Eigenversorgung wirtschaften und meist wenig produktiv sind. Die kontinuierliche Abholzung Madagaskars – die Waldfläche ist seit 1960 um 82 Prozent auf 6 Millionen Hektar zurückgegangen – und regelmäßige Dürren sowie Klimaereignisse lassen ihre Produktivität noch weiter fallen. Industrie und ein Digitalsektor sind kaum vorhanden. Die Infrastruktur ist vielerorts desaströs. Teilweise kostet es mehr, Waren die 200 Kilometer zwischen Antananarivo und dem Hafen Toamasina zu transportieren, als dann die 8.800 Kilometer nach Paris zu verschiffen. Die Perspektivlosigkeit auf dem Land treibt die schnell wachsende Bevölkerung wiederum in die Städte, wo die öffentliche Infrastruktur (z.B. Strom und Wasser) und der Wohnungsmarkt dem Druck nicht standhalten.
Gut zu wissen: Über 60 Prozent der urbanen Bevölkerung leben in informellen Siedlungen bzw. Nachbarschaften ohne jegliche öffentliche Dienstleistungen, warnt die Weltbank. Damit ist Madagaskar nicht imstande, die wirtschaftlichen Vorteile, welche meistens mit mehr Urbanisierung einhergehen, zu realisieren – doch erlebt die Probleme.
Parallel zu der Misswirtschaft, welche in hohem Maße auf das gescheiterte sozialistische Experiment in den 1970ern zurückgeht, sich aber längst nicht mehr nur hinter diesem verstecken kann, erlebt Madagaskar ein hohes Maß an Korruption. Fast jede Regierung erlebte große Korruptionsskandale. Bei Rajoelina, dessen zur Schau gestellter Wohlstand in nicht unwesentlichem Maße zu den jetzigen Protesten beigetragen hat, war es die Verurteilung seines Stabschefs vor einem Londoner Gericht: Dieser habe Hunderttausende Dollar an Bestechungsgeldern angenommen, um lukrative Bergbaurechte zu vergeben. Ganz allgemein gibt es in Madagaskar eine bemerkenswert reiche Elite, welche von der Ausbeutung der vielen Rohstoffe der Insel profitiert. Oppositionelle und Antikorruptionsaktivisten nennen ihr Land einen Mafiastaat.
Wie es weiter geht_
(2 Minuten Lesezeit)

Vertrauensvorschuss
Die whathappened-Redaktion hat eingangs zwei Szenarien dargelegt: In Bangladesch begleitet die Armee bislang einen demokratischen Prozess und wirkt wie ein vertrauenswürdiger Akteur. Im Sudan beteuerte die Armee das 2019 zwar ebenfalls, doch war stets in einem zutiefst angespannten Verhältnis zur zivilen Seite und putschte sich 2021 an die alleinige Macht. Was Madagaskar schon jetzt von Bangladesch abhebt und näher an den Sudan rückt, ist, dass die Protestbewegung keine kohärente Zukunftsvision besitzt und dass CAPSAT-Oberst Randrianirina sich bereits zum Präsidenten ernannt hat.
Viele Madagassen geben dem Offizier allerdings einen Vertrauensvorschuss und möchten die Vorgänge nicht einmal einen Putsch nennen, so wenig mochten sie Rajoelina. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach die Erfahrung gemacht, dass sich das Militär einmischt (bis hin zum Putsch), das aber meist im Interesse der Protestbewegungen tut und dann letztlich immer die Kontrolle an eine Zivilregierung zurückgab. Auch Randrianirina beteuert, dass er binnen zwei Jahren Wahlen abhalten lassen möchte, und erklärt: "Die Macht gehört dem Volk, nicht mir".
Gut zu wissen: Der 51-jährige Randrianirina trat in Madagaskar bislang öffentlich kaum in Erscheinung, auch wenn er schon zuvor mit Rajoelina aneinandergeriet und 2023 aufgrund einer mutmaßlichen Meuterei für einige Monate verhaftet wurde. Er stammt aus dem selbst für madagassische Verhältnisse armen Süden des Landes und gehört nicht zur gesellschaftlich dominanten, südostasiatischstämmigen Merina-Ethnie, sondern einer afrikanischstämmigen Ethnie.
Die sich reimende Geschichte
Es gibt keine Garantie, dass die Zukunft der Vergangenheit folgt. Die erfolgreichen Putsche in anderen afrikanischen Ländern könnten Randrianirina oder Fraktionen um ihn herum dazu inspirieren, doch fester nach der Macht zu greifen, als Madagaskar es bislang gewohnt war. Der Westen, welcher jahrzehntelang die Kosten unerwünschter Machtergreifungen erhöhte, betreibt diese Rolle nur noch halbherzig. Und dass Junta-Chefs ihre Versprechen brechen, wäre beileibe keine Neuheit.
Zumindest in einer Hinsicht erinnert Madagaskar unter Oberst Randrianirina bereits an Niger, Mali, Burkina Faso und Co. nach deren Militärputschen. Der neue Staatschef traf sich fast umgehend mit den Mitarbeitern der russischen Botschaft, um Gespräche über eine "ernsthafte" Kooperation der beiden Länder anzustoßen. Und genau wie in den Sahelstaaten ließen sich auch bei den madagassischen Protesten Russlandflaggen erkennen. Das ist weniger Ausdruck einer konkreten Russlandpräferenz als einer Ablehnung eines vermeintlichen "neokolonialen" westlich-französischen Einflusses, obwohl Frankreich heute in Madagaskar eine weitaus geringere Rolle spielt, als es das bis 2020 in den Sahelstaaten tat.
Wie es in Madagaskar weitergeht, ist noch schwierig einzuschätzen. Klarer ist die Ironie im Rückspiegel. Andry Rajoelina war einst mit 34 Jahren als Hoffnungsträger einer neuen, jungen Generation ins Amt getragen worden, nämlich auf den Schilden von CAPSAT. Heute war es die nächste junge Generation, welche ihn aus dem Amt jagen wollte, und CAPSAT, welches das zur Realität machte – womit Rajoelinas Abschied sehr jenem seines Vorgängers Ravalomanana ähnelt. Die Madagassen dürften historische Ironien allerdings weniger interessieren als funktionierender Strom und fließendes Wasser.
Weiterlesen
Zu Afrika
Die Stunde Null des Sudan (2024)
Tunesien sucht die Vergangenheit (2023)
Die Wagner-Gruppe (2022)
Sahel: Die Küste und der Gürtel (2022)
Sudan am Scheideweg (2021)
Äthiopien: Der Konflikt in Tigray (2021)
Der Bürgerkrieg in Äthiopien und die zwei riskanten Strategien (2021)
Tunesien: Die komplizierte Demokratie (2021)
Die Westsahara erreicht den Rest der Welt (2021)
Marokko und die Westsahara (2020)
Weitere passende Explainer
Bangladesch wagt den Neuanfang (2024)
Syriens Opposition hat gesiegt (2024)
Der Jemen und die Houthis (2024)
Myanmars Tanz zwischen Diktatur und Demokratie (2021)
Myanmar nähert sich dem Kipppunkt (2024)
Thailand sucht die Reform (2023)
Die Proteste in Thailand (2020)