Was ist in der ältesten modernen Nation Lateinamerikas schief gelaufen?
10.03.2024
Haitis Pfad | Der Zerfall
(16 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Haiti ist das Produkt der ersten erfolgreichen Sklavenrevolution der Welt, die zweite Republik der westlichen Hemisphäre, die erste schwarze Republik und der erste unabhängige Staat Lateinamerikas.
- Doch im Grunde seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1804 erlebt der Staat mit 11 Millionen Einwohnern laufend politisches Chaos oder autoritäre Herrschaft, gepaart mit hoher Verschuldung und schwacher Wirtschaftsentwicklung.
- In den letzten Jahren eskalierte die Ermordung eines Präsidenten im Jahr 2021 einen schweren Bandenkrieg. Beides dürfte Ausdruck intensiver innerelitärer Konflikte sein.
- Der Bandenkrieg erfasst inzwischen die gesamte Hauptstadt und ihr Umland; die staatliche Funktionsfähigkeit des Landes ist praktisch zum Erliegen gekommen.
- Eine internationale Polizeimission könnte Besserung bringen, doch vermutlich geht es nicht ohne einen Rücktritt des amtierenden Premiers.
Haiti scheint im Zerfall begriffen. Das ist im Grunde kaum etwas Neues. Seit Jahrzehnten gehört die kleine karibische Inselnation zu den ärmsten Staaten der Welt und wird knapp jede Dekade von einer großen Naturkatastrophe erneut in eine humanitäre Krise gestoßen. 2021 wurde der Präsident ermordet und seitdem befindet sich das Land in einem politischen Fast-Vakuum, angeführt von einem unpopulären Premierminister. Gewaltsame Banden kontrollieren weite Teile des Landes und sorgten jüngst für Aufsehen, nachdem sie in schneller Abfolge das Nationalgefängnis, den Flughafen, den wichtigsten Hafen, Polizeieinrichtungen und - erst am Freitag vor diesem Explainer - mehrere Regierungsgebäude attackierten. Ein geeigneter Moment, um das Land besser zu verstehen.
Wir zeichnen Haitis Pfad bis heute nach und erklären die aktuelle Situation.
Haitis Pfad_
(8 Minuten Lesezeit)
Du kannst Haitis Geschichte in drei Abschnitten verstehen. Erstens, eine völlig klassische Kolonialstory: Die Spanier kolonialisieren 1492 die indigene Bevölkerung und setzen ein auf Sklaverei basierendes, extraktives Wirtschaftssystem auf. Europäischer Machtkampf führt dazu, dass Frankreich 1697 übernimmt. Zweitens, ein historisch einzigartiger Sklavenaufstand und ein erfolgreicher Unabhängigkeitskrieg ab 1791, welcher in eine brutale, chaotische Staatsgründungsphase übergeht. Und dann 200 Jahre an politischer Instabilität mit schnell wechselnden, zumeist autoritären Herrschern und einer schwachen Wirtschaft.
Tainos und Spanier
Bevor die Expedition von Christopher Kolumbus 1492 in der "Neuen Welt" eintraf, war die gesamte Insel Hispaniola von der indigenen, in der gesamten Karibik verbreiteten Taino-Bevölkerung bewohnt. Die Insel nannten sie damals "Hayti", das "Land der hohen Berge" und regierten sie in zahlreichen Häuptlingstümern. Als die Spanier am 25. Dezember 1492 die erste permanente Kolonie auf der so getauften "spanischen Insel" (Hispaniola) einrichteten, war das Verhältnis der zwei Gruppen noch gut, doch verschlechterte sich schnell.
Die Spanier übernahmen nach und nach die Kontrolle über die gesamte Insel, auch wenn sie ihre Siedlungsaktivität vor allem auf den östlichen Teil, die heutige Dominikanische Republik, konzentrierten. Sie etablierten das encomienda-System, welches Indigene praktisch wie Leibeigene als Privatbesitz an einen spanischen Kolonisatoren übergab. Die harte Arbeit in Minen und Plantagen sowie die eingeschleppten Krankheiten, gegen welche die Indigenen keine etablierten Resistenzen besaßen, führten zum nahezu vollständigen Verschwinden der Tainos. Heute identifiziert sich nur eine sehr kleine Zahl der Bevölkerung von Hispaniola mit der Taino-Ethnie.
Gut zu wissen: Leibeigenschaft geht nach den meisten Definitionen mit mehr Rechten als "Sklaverei" einher, etwa, da der Leibherr die Sicherheit des Leibeigenen sicherstellen muss. Ungeachtet dessen, und auch der Tatsache, dass Spaniens Königin Isabella I. kurz nach Beginn der Kolonisation die Indigenen zu "freien Vasallen" der Krone ernannte, funktionierte die encomienda in den allermeisten Fällen de facto als Sklaverei.
Hispaniola verlor relativ schnell an Bedeutung, da Spanien ab dem frühen 16. Jahrhundert das Festland zu kolonisieren begannen und sich auf die reichen, verhältnismäßig weit entwickelten Gebiete in Mexiko und Peru konzentrierte. Die Insel wurde zu einem Zwischenstopp auf dem Weg zwischen den Vizekönigreichen des Festlands und der spanischen Heimat. Entsprechend attraktiv war sie als Standort für die Piraterie, welche von Spaniens europäischen Rivalen Frankreich und Großbritannien angetrieben wurde. Der Druck auf Spanien wurde so groß, dass es die westliche Hälfte Hispaniolas räumte. Stattdessen etablierten sich dort Piratenbasen - und Frankreich.
Saint-Domingue
Frankreich und Spanien hatten jahrzehntelang um den westlichen Teil Hispaniolas gestritten. Alle paar Jahre landeten die Franzosen irgendwo an und etablierten eine Kolonie, nur um von den Spaniern vertrieben zu werden. Als in Europa der neunjährige Krieg 1688-1697 zu Ende ging, übergab ein erschöpftes Spanien im Frieden von Ryswick das westliche Drittel Hispaniolas offiziell an Frankreich, welches dort die Kolonie "Saint-Domingue" etablierte, parallel zu Spaniens "Santo Domingo" (heute Dominikanische Republik) nebenan.
Saint-Domingue wurde eine der reichsten Kolonien der Welt sowie eine der wichtigsten im wachsenden französischen Kolonialreich. 60 Prozent des Kaffees in Europa und 40 Prozent des Zuckers stammten von dieser einen Kolonie. Bearbeitet wurde sie von einer selbst im Kolonialkontext beeindruckenden Zahl an afrikanischen Sklaven: Bis 1788 kamen auf 25.000 Europäer und 22.000 freie Schwarze ganze 700.000 Sklaven. Der Umgang mit ihnen war schlecht. Laut dem US-Anthropologen Paul Farmer starb ein Drittel aller neu angekommenen Sklaven binnen weniger Jahre, laut dem Historiker Laurent Dubois gar die Hälfte, bezogen auf das späte 18. Jahrhundert.
Die Sklavenrevolution
Die Französische Revolution 1789 löste einen Ruck in Saint-Domingue aus und inspirierte die versklavte Bevölkerung zu einem Aufstand. Der akute Auslöser war offenbar eine Voodoo-Zeremonie im August 1791. Das kulturelle Element des Voodoo war aus Westafrika mitgebracht worden und hatte sich als heimliche, in Anbetracht der schieren Zahl der Afrikaner kaum unterdrückbare Praxis etabliert. Dazu gelang es über die Jahre Tausenden Sklaven, zu fliehen, und im Hinterland der Kolonie autonome Gemeinden zu kreieren. Tausende Sklaven nahmen an besagter geheimen Voodoo-Zeremonie teil, bei welcher sie einen tropischen Sturm als Omen interpretierten und eine Revolte starteten. Diese weitete sich in kürzester Zeit auf den gesamten Norden von Saint-Domingue aus, dann auf die ganze Kolonie.
Ein dreizehnjähriger Sklavenaufstand und Unabhängigkeitskrieg begann, welcher mit einem unabhängigen, von Schwarzen kontrollierten Haiti enden würde. Es war der größte Sklavenaufstand seit dem Spartakus-Aufstand im antiken Rom 1.900 Jahre früher und der erfolgreichste in der Menschheitsgeschichte.
Die ehemals versklavte Bevölkerung übernahm schnell die Kontrolle über die Kolonie. Eine chaotische Phase folgte, mit mehreren Rückeroberungsversuchen der Franzosen. Die Briten und Spanier unterstützten die Sklaven anfangs, doch später versuchte Großbritannien selbst vergeblich, die Kontrolle zu übernehmen, woraufhin ein Teil der schwarzen Führung plötzlich mit Frankreich paktierte - und später auch gegen den Verbündeten Spanien agierte und das benachbarte Santo Domingo eroberte. Im Jahr 1802 gelang es Napoleon, Frankreichs neuem Kaiser, Saint-Domingue wieder unter Kontrolle zu bringen. Als sich jedoch abzeichnete, dass Paris die Sklaverei wieder einführen würde, brach ein erneuter Aufstand aus. Einmal erneut unterstützt von den Briten, welche erneut im Krieg mit Frankreich waren. Bis zum Jahr 1804 siegten die Revolutionäre und errangen final die Unabhängigkeit.
Gut zu wissen: Die schwarze Revolution wurde von 5.200 polnischen Soldaten unterstützt, welche ursprünglich auf Seiten der Franzosen nach Haiti entsandt worden waren. Die Polen bemerkten, dass es sich um einen Sklavenaufstand handelte und wechselten die Seite. Haitis erster Staatschef Jean-Jacques Dessalines nannte die Polen später würdigend "Europas weiße Neger" ("nègres blancs d'Europe"), verpasste ihnen die Staatsbürgerschaft und ließ sie in der Verfassung als schwarz anerkennen.

oben rechts: Toussaint Louverture;
unten links: Henri Christophe; unten rechts: Alexandre Pétion.
Quelle: wikimedia
Terror, Chaos, Expansion
Die Führung der schwarzen versklavten Bevölkerung bestand aus mehreren prominenten Personen, welche bis heute im politischen Pantheon Haitis eine herausragende Rolle einnehmen. Da wäre erstens Toussaint Louvertoure, ein befreiter Sklave und zeitweise selbst Sklavenhalter, welcher die Revolution zu Beginn anführte und bis heute als "Vater der Nation" gilt, allerdings vor dem Erfolg der Revolution von den Franzosen gefangen genommen wurde und in der Haft starb. Zweitens, Henri Christophe, welcher nach seiner Zeit als General im Norden des unabhängigen Haiti ein kurzlebiges Königreich etablierte, dort aus einem edlen Palast namens Sans-Souci regierte und wieder die Sklaverei einführte (doch der bis heute im nördlichen Haiti hoch angesehen ist). Drittens, Alexandre Pétion, welcher zu Christophes Erzfeind geriet und ihn mit einer im Süden gelegenen Republik herausforderte, welche sich letztlich durchsetzen würde.
Und viertens, wohl am wichtigsten, Jean-Jacques Dessalines, welcher nach der Unabhängigkeit als erster die Macht übernahm, sich zum Kaiser krönen ließ und das Land zu "Haiti" umbenannte. Dessalines regierte despotisch und bemerkenswert brutal. 1804 ordnete er einen Genozid an der verbliebenen weißen Bevölkerung Haitis an, welchem bis zu 5.000 Menschen zum Opfer fielen. Er stellte in einer Reise durchs Land höchstpersönlich sicher, dass sein Befehl tatsächlich durchgeführt wurde. Es war der blutige Abschluss eines seinerseits äußerst gewaltsamen Unabhängigkeitskrieges, in welchem Franzosen und schwarze Haitianer zahlreiche Gräueltaten an der anderen Seite verübten.
Gut zu wissen: Nur die genannten polnischen Legionäre sowie einige Deutsche, welche nicht am Sklavenhandel teilgenommen hatten, wurden vom Massaker verschont. Dessalines versuchte das Massaker als notwendige Sicherheitsmaßnahme zu beschreiben, doch räumte auch völlig offen ein, dass es um Rache für die jahrzehntelangen Misshandlungen durch die Franzosen gegangen sei. Das Massaker sorgte für viel Aufsehen in den Sklavenhalterstaaten der USA und war ein zentraler Bestandteil des Diskurses gegen eine Abschaffung der Sklaverei; könnte damit zum amerikanischen Bürgerkrieg 1861 beigetragen haben.
Die junge Nation stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Ihre Infrastruktur war durch den Krieg zerstört und der "brain drain" gewaltig. Der Genozid an den Weißen machte es für die westlichen Staaten unmöglich, mit dem ersten aus dem europäischen Kolonialismus ausgebrochenen schwarzen Staat zusammenzuarbeiten. Frankreich drohte 1825 mit der Wiedereroberung Haitis und zwang es im Gegenzug für die Anerkennung der Unabhängigkeit dazu, 150 Millionen Francs - heute umgerechnet viele Milliarden EUR, wobei die genaue Zahl je nach Wechselkursschätzung variiert - an Reparationen zu zahlen. Zeitweise würden 80 Prozent des Staatshaushalts in die Zahlungen fließen; sie wurden erst 1947 abgeschlossen. Um all das zu finanzieren, nahm Haiti teure Schulden bei westlichen Banken auf.
Politisch lief es kaum besser. Die brutale Ära Dessalines endete jäh 1806, als er von Gefolgsleuten ermordet wurde, woraufhin Haiti in zwei Staaten und einen Bürgerkrieg zerfiel (der besagte Konflikt zwischen Christophe und Pétion). Erst 1820 kam das Land wieder zusammen und fiel umgehend zum zweiten Mal in das benachbarte Santo Domingo ein, ironischerweise, nachdem sich dieses soeben die Unabhängigkeit von Spanien erkämpft hatte. Haiti annektierte den Ostteil der Insel 22 Jahre lang, bevor es abgeschüttelt wurde, doch führte auch danach noch mehrere erfolglose Invasionen in die neue Dominikanische Republik durch.
Die Ära Duvalier
Haiti wankte sich mit viel politischer Instabilität und wenig wirtschaftlicher Entwicklung durch die Jahrzehnte. Präsident nach Präsident wurde aus dem Amt geputscht, von Protesten herausgejagt oder umgebracht. Besonders war das Verhältnis zu den USA, welche im 20. Jahrhundert viel Einfluss auf Haiti nahmen. 1915 besetzten sie Haiti für 18 Jahre, um nach der Ermordung eines Präsidenten eine US-freundliche Regierung sicherzustellen (und wachsenden deutschen Einfluss zurückzudrängen). Unter der US-Herrschaft verbesserten sich zwar Infrastruktur und Wirtschaft in gewissem Maße, doch die Bürgerrechte waren ausgesetzt und ein "Corvée"-System - gesetzlich vorgeschriebene Arbeit - erinnerte die Bevölkerung allzu sehr an Sklaverei. 1933 zogen die USA, deren Außenpolitik sich inzwischen deutlich geändert hatte, ab; doch die Besatzung schuf in Haiti einen "schwarzen Nationalismus", welchen es so seit dem Unabhängigkeitskrieg nicht gegeben hatte. Bis heute blickt ein großer Teil der Bevölkerung feindselig auf die USA.
Haiti ging unmittelbar zurück ins politische Chaos mit schnell wechselnden Präsidenten, bis 1957 Francois Duvalier ins Amt gewählt wurde. "Papa Doc" begann eine zutiefst autoritäre und korrupte Phase, welche ab 1971 von seinem 19-jährigen Sohn Jean-Claude "Baby Doc" Duvalier fortgeführt wurde. Rund 60.000 Menschen starben in der Duvalier-Dynastie mit ihrer "Buhmänner" (tonton macoute) genannten Spezialmiliz, vor allem (mutmaßliche) politische Gegner, Feinde innerhalb des Militärs und Kommunisten. 1986 war Duvalier aufgrund der desolaten Wirtschaftslage dermaßen unbeliebt, dass Massenproteste im Land ausbrachen. Die USA forderten den Präsidenten zum Abtritt auf; er gab nach und begab sich ins Exil nach Frankreich.
Gut zu wissen: Die Duvalier-Regierungen waren äußerst korrupt. Der "Global Corruption Report 2004" platzierte Jean-Claude Duvalier auf Rang 6 der korruptesten Staatschefs der Welt der vergangenen Jahrzehnte, mit 300 bis 800 Millionen USD an gestohlenen Geldern.
Mit dem Ende der Duvalier-Ära verbesserte sich die Lage für Haiti erst kaum, doch 1990 wurden die vermutlich ersten tatsächlich fairen und freien Wahlen des Landes seit der Unabhängigkeit 1804 abgehalten. Der Wahlsieg des ambitionierten Reformers, Regierungskritikers und früheren Priesters Jean-Bertrand Aristide machte Hoffnungen. Seine Reformagenda war allerdings im Polit- und Militärestablishment unbeliebt, welches ihn im Folgejahr aus dem Amt putschte. Die Militärjunta wurde wiederum von den USA in der Operation "Uphold Democracy" 1994 abgesetzt; Aristide wieder ins Amt eingesetzt.
Rein dramaturgisch hätte mit der Rückkehr Aristides ein Umlenken in Haiti einsetzen müssen. Doch die Realität dachte nicht einmal dran: Aristides Reformagenda funktionierte nicht und war unbeliebt; zusammen mit den Folgen eines schweren Hurrikans wurde er schon 1995 aus dem Amt gewählt, nur um 2000 zurückzukehren und 2004 je nach Interpretation von einem populären Aufstand oder von einem US-geführten Putsch (so Aristide selbst) aus dem Amt gedrängt zu werden. Innerhalb dieses Jahrzehnts war Haiti zwar tatsächlich demokratisch, doch politische Gewalt zwischen den verfeindeten Parteien und Menschenrechtsverbrechen häuften sich und höhlten die Stabilität der Demokratie aus. 2010 paralysierte ein selbst für haitianische Verhältnisse schweres Erdbeben das Land auf Jahre, bevor 2016 Jovenel Moïse zum Präsidenten gewählt wurde.
Haiti heute_
(7 Minuten Lesezeit)

Unten rechts: Jovenel Moïse. Quelle: wikimedia
Das Attentat
Auch unter Moïse kam Haiti nicht zur Ruhe. Eigentlich hatte er bereits 2015 eine Wahl gewonnen, doch sie war nach großflächigen Betrugsvorwürfen annulliert worden. Sein erneuter Sieg 2016 wurde von Opposition zwar nicht ernsthaft angefochten, doch Kontroverse blieb um das offizielle Startdatum seines Mandats. Moïse erklärte, dass es mit seiner Vereidigung Anfang 2017 begonnen habe und Anfang 2022 ende; die Opposition, dass es schon auf die annullierte Wahl 2015 bezogen werden müsse und somit 2021 ende. Das führte jahrelang zu einer politischen Krise samt reichlich Gewaltausbrüchen, in welche sich auch Vermittler wie die USA einzuschalten versuchten.
Der Streit endete jäh mit der Tötung Moïses durch ein kolumbianisches Söldnerkommando am 7. Juli 2021. Wer das Attentat in der Residenz des Präsidenten in Auftrag gegeben hatte, ist bis heute unklar. Mehrere Größen innerhalb der haitianischen Elite wurden von Beobachtern beschuldigt, wobei auch Verbindungen zum heutigen Premier Ariel Henry, Ex-Premier Claude Joseph und Moïses Witwe gezogen wurden. Der Grund ist genauso unklar, doch innerelitäre Streitigkeiten wirken wahrscheinlich. Einige Beobachter spekulieren, dass Moïse vorgehabt haben könnte, den Drogenhandel zu bekämpfen und die Verbindungen hochrangiger Offizieller zum Drogenhandel offenzulegen.
Der Bandenkrieg
Nach Moïses Tod übernahm erst Premier Claude Joseph die Regierungsgeschäfte, doch wurde schnell vom Parlament durch Ariel Henry ersetzt. Seitdem ist das Land dysfunktional: Es gibt keinen Präsidenten, kein klares Datum für Wahlen, das Parlament ist nicht vollständig funktionsfähig und das Oberste Gericht aufgrund eines Mangels an Richtern ebenso. Die Covid-19-Krise, steigende Lebenshaltungskosten und ein schweres Erdbeben im August 2021 verschlimmerten die ohnehin fragile Wirtschaftslage. Damit intensivierte sich ein Bandenkrieg, welcher im Grunde bereits seit 2020 lief.
Bewaffnete Banden sind für Haiti nichts Neues. Seitdem die Duvalier-Diktatur die Tonton Macoute-Milizen etablierte, sind paramilitärische Gruppen gang und gäbe und werden von Polit- und Wirtschaftseliten für ihre Zwecke eingesetzt, etwa auf Gegner losgeschickt - so mutmaßlich auch durch Jovenel Moïse. Darüber hinaus nutzten sie das Vakuum, welches durch Naturkatastrophen, Epidemien und inkompetente Regierungen geschaffen wurde, um lokal - meist auf stark bevölkerte Slums bezogen - faktische Regierungsgewalt zu übernehmen.
Die Banden bewahren die Bevölkerung dort vor feindseligen Banden, verüben allerdings im Feindgebiet Morde, Massaker sowie Entführungen - sehr oft auch an Zivilisten - und liefern sich Schießereien. Ihren Umsatz beziehen sie aus Schutzgeldern, welche sie von den Geschäften in ihrer Zone erpressen, sowie dem Drogen- und Waffenhandel - und, vielleicht am wichtigsten, von den jeweiligen "Mäzen" aus Politik und Wirtschaft. Schätzungsweise 200 Banden operieren in Haiti, davon die Hälfte in der Hauptstadt Port-au-Prince. Die wichtigste Bandenfraktion ist die "G9 Allianz", angeführt von Jimmy "Barbecue" Chérizier.
Gut zu wissen: Die Tonton Macoute wurden 1986, nach dem Ende der Duvalier-Dynastie, zwar aufgelöst, doch nie entwaffnet, womit sie einfach ein Dasein als ultrarechte Milizen weiterführten. Genauso lief es, als Präsident Aristide 1994 sogar die haitianische Armee auflöste - die Soldaten behielten einfach ihre Waffen und schlossen sich inoffiziellen Milizen an. Der definitorische Übergang zwischen "Miliz" und "Bande" ist hierbei fließend.

"Barbecue" und Philippe
Chérizier ist ein Ex-Polizist und erklärter Fan von Ex-Diktator "Papa Doc" Duvalier, welcher die Bande "Base Delmas 6" führte und 2020 dann aus rund einem Dutzend Banden die G9 bildete - und das sehr modern in einem YouTube-Video bekanntgab. Er galt früher als Verbündeter von Jovenel Moïse, welcher im Gegenzug für Straffreiheit die Ruhe auf den Straßen herstellte und die politische Opposition sowie deren Banden attackierte. Passenderweise gilt die Hauptrivalin der G9, die Bande G-Pèp, als Gruppe der Opposition. Haitis Banden lassen sich grob in regierungsfreundlich und regierungsfeindlich einteilen.
Nach dem Attentat auf Moïse forderte Chérizier schnell einen Rücktritt der Regierung von Ariel Henry, welchen er einen "blutrünstigen Diktator" nannte. Eine erste Eskalation Ende 2022, bei welcher die G9 wichtige Treibstofflieferungen für Haiti im Hauptgasterminal festsetzte, endete nach geheimen Verhandlungen. Warum genau nun Anfang 2024 die nächste scharfe Eskalation geschieht, ist nicht ganz eindeutig. Über 80 Prozent von Port-au-Prince scheinen inzwischen in der Hand von Banden zu sein. Wenn sie in neue Viertel vordringen, gleicht das mitunter Belagerungen. Dabei geht es längst nicht mehr um Slums; die Banden dringen auch in reichere Gebiete vor. Entsprechend ihre Fähigkeit, Ziele wie die Zentralbank, den Präsidentenpalast oder das Nationalgefängnis zu attackieren.
Gut zu wissen: Der durchaus Social-Media-affine Chérizier weist Behauptungen zurück, wonach sein Spitzname "Barbecue" daher stamme, dass er Menschen in Flammen gesetzt habe. Er hänge damit zusammen, dass seine Mutter eine Brathähnchen-Straßenverkäuferin gewesen sei.
Dramatisch sind die Banden für die Zivilbevölkerung. Eine bestimmte Fraktion mag zwar ein bestimmtes Viertel als Schutzgebiet werten, doch der Konflikt zwischen den Banden bedeutet, dass die Menschen überall schweren Gewaltverbrechen ausgesetzt sind - und auch die eigenen Beschützer agieren oftmals willkürlich und ausbeuterisch. Mehrere Bürgerwehren haben sich inzwischen gebildet, welche Bandenmitglieder jagen und töten und mehrfach lebendig verbrannt haben. Sie geraten ins Fadenkreuz der Banden, welche gezielt lokale Organisatoren ermorden. Das nimmt ein solches Ausmaß an, dass die Bürgerwehren inzwischen quasi eine dritte aktive Fraktion im Bandenkrieg darstellen. Auffällig fehlen tun dagegen die haitianischen Sicherheitskräfte, welche den Banden materiell und personell unterlegen sind und sich mehrheitlich auf die Abwehr offensiver Bandenoperationen gegen wichtige Ziele konzentrieren.
Eine Erklärung für den aktuellen Zeitpunkt ist die Rückkehr eines alten Bekannten. Guy Philippe war ein Polizist, Milizenchef, Drogenschmuggler und, am wichtigsten, Putschanführer im Jahr 2004; war also der Mann, welcher Jean-Bertrand Aristide endgültig aus dem Amt beförderte. Für seine Beteiligung am Drogenschmuggel ließen die USA ihn verhaften und ausliefern. Im Dezember 2023 kehrte er nach Haiti zurück. Heute ruft er ebenfalls nach Henrys Rücktritt, meldet politische Ambitionen für das Präsidentenamt an und verspricht Bandenmitgliedern eine Generalamnestie. Es überrascht wohl kaum, dass Philippe und Chérizier als Verbündete gelten.
Der Ausblick und die Polizeimission
Was bleibt in Haiti? Erst mal etwas Perspektive: Das Land ist nicht so tief im Krieg versunken wie ein Sudan, Gaza oder Myanmar. Gerade der Norden Haitis um die zweitgrößte Stadt Cap-Haïtien ist stabil und verhältnismäßig sicher; erlebt sogar noch leichten Tourismus. Zugleich darf der Konflikt der "Banden" im Land, welcher sich vor allem auf Port-au-Prince und die Umgebung konzentriert, nicht wie ein Bandenkonflikt in Europa oder den USA verstanden werden. Er ist struktureller, großflächiger und vor allem politischer. Wenn Chérizier vor "Bürgerkrieg" warnt, ist das nicht reine Wichtigtuerei. Bereits jetzt findet mit hoher Sicherheit ein faktischer Schattenkrieg zwischen Anti- und Pro-Regierung-Fraktionen innerhalb der Elite statt, welcher über die Banden geführt wird. Die negativen Effekte auf die ohnehin desolate Wirtschaft, die fragile Versorgungslage und das Vertrauen in die staatlichen Einrichtungen sind bedeutsam - vor allem, da die Kämpfe sich jüngst auf die "Kornkammer" des Landes, die Agrarregion Artibonite, ausgeweitet haben.
Ein wenig Hoffnung bietet womöglich eine internationale Polizeimission für Haiti, zu welcher sich Kenia bereit erklärt hat. Die USA hatten lange nach einem Land gesucht, welches die Führung der Mission übernimmt, und sind letztlich bei Kenia gelandet (sie selbst wollen nur "logistische" Hilfe leisten). Vor wenigen Tagen war Premierminister Henry vor Ort und erzielte eine Einigung mit Kenias Präsidenten William Ruto. 2.000 kenianische Polizeioffiziere, womöglich unterstützt von Polizisten aus weiteren Ländern, würden versuchen, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Vielleicht erklärt auch das den aktuellen Gewaltausbruch: Die Banden senden ein Warnsignal und verbessern ihre strategische Lage.
Es gibt allerdings zwei große Einwände. Erstens, ist es unklar, ob die Mission ihre Ziele erfüllen kann, sprich, überhaupt für die Lage vor Ort gewappnet wäre. Dutzende kenianische Polizisten sind nach den jüngsten Gewaltausbrüchen aus der Operation ausgestiegen. Andererseits dürften die Banden es tatsächlich schwer haben, es mit professionellen, gut ausgerüsteten Sicherheitskräften aufzunehmen, vor allem abseits ihrer Kerngebiete, in welchen sie eine gewisse Popularität genießen.
Zweitens, unterstützt nur ein Teil der Haitianer die Polizeimission. Er hofft, dass sie tatsächlich die Sicherheitslage verbessert. Ein anderer befürchtet, dass sie lediglich als Erfüllungsgehilfe der Henry-Regierung fungieren würde, aber wenig für die Situation der Menschen "am Boden" tut. Schließlich waren auch die Erfahrungen mit früheren ausländischen Interventionen schlecht, seien es die USA 1994 oder eine UN-Mission nach 2004, welche mit allzu robustem Vorgehen und einem schweren Missbrauchsskandal auffiel. Auch Guy Philippe erklärte, dass die Kenianer "nicht willkommen" seien, womit er vielen Haitianern aus der Seele sprechen dürfte. Wie vielen, ist schwer zu sagen.
Von Grund auf neu errichten
Am besten wäre es wohl, wenn Premier Henry zeitnah neue Wahlen ansetzt, immerhin fanden die letzten im Jahr 2016 statt. Henry hat sie für 2025 versprochen, doch jeder frühere Monat, in welchem eine Regierung mit echter demokratischer Legitimation agiert, ist ein Vorteil. Gleichzeitig hat der 74-jährige frühere Neurochirurg durchaus recht damit, dass die aktuelle Lage glaubwürdige Wahlen kaum möglich macht. Ein Rücktritt zugunsten einer Übergangsregierung wäre dennoch ein erster Schritt. Die USA und karibische Regionalorganisationen, welche Henry nach der Ermordung Moïses als ihren Wunschkandidaten legitimierten, rufen ihn ausdrücklich dazu auf.
Die Aufgabe in Haiti ist nicht minder, als die Überbleibsel des Staates aufzukehren und ihn dann komplett neu aufzubauen. Seit der Sklavenrevolution 1791 erlebte Haiti kaum ein ruhiges Jahrzehnt. Doch selten war der Staat so sehr im Zerfall begriffen, wie heute. Es hat etwas Symbolisches, wenn Premier Henry von seiner Kenia-Reise gar nicht erst nach Haiti zurückkehren kann, weil die Banden den Flughafen unter Beschuss nehmen. Nach einem Stopp in Puerto Rico scheint er nun auf dem Weg nach Jamaika zu sein. Sein genauer Aufenthaltsort ist unbekannt.
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