Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)
- Vor fast genau einem Jahr stürzte die Assad-Regierung in Syrien. Eine Regierung moderater Islamisten um Ahmed al-Sharaa übernahm die Macht.
- Die ehemaligen Rebellen versprechen Demokratisierung und Inklusion. Tatsächlich gab es einige Schritte in die Richtung, doch das politische System bleibt auf eine Person zugeschnitten.
- Zwei Massaker an Minderheiten und ein ungeklärter politischer Konflikt mit den Kurden belasten Syrien.
- Die Wirtschaftslage ist desolat, doch es gibt Hoffnung auf Verbesserung – vor allem dank der Lockerung westlicher Sanktionen.
- Das ist zugleich der größte Erfolg in der neuen syrischen Außenpolitik. Doch auch mit Russland und anderen Regionalmächten gelingt bislang ein konstruktives Verhältnis.
- Mit Israel herrschen Spannungen, welche vor allem im Kontext eines Konflikts mit den Drusen oder eines hypothetischen iranischen Einflusszuwachses eskalieren könnten.
- 2026 wird klarer werden, was in Syrien bevorsteht. Die meisten Syrer sind derweil optimistisch; 1,5 Millionen Flüchtlinge sind zurückgekehrt.
- Eine große Ausnahme sind die besagten Minderheiten, die knapp ein Drittel des Landes ausmachen, und besorgt auf die Lage blicken.
Al-Sharaa_
(3 Minuten Lesezeit)
13 Jahre vergehen, und dann kann es binnen 8 Tagen ganz schnell gehen. Vor genau einem Jahr und einer Woche floh Baschar al-Assad aus Syrien und hinterließ ein neues, postrevolutionäres Land. Die whathappened-Redaktion musste noch am Morgen der Explainer-Ausgabe im Dezember 2024 "live" Anpassungen an ihrem Text vornehmen, um die Flucht des einstigen Diktators und den Sieg der Opposition abzubilden. Entsprechend auch der Titel jenes Explainers: "Syriens Opposition hat gesiegt".Mit dem vollendeten Bürgerkrieg entstand ein Syrien, welches schon heute in vielerlei Hinsicht nicht mehr wiederzuerkennen ist – welches gleichzeitig allerdings noch nicht weiß, welche Zukunft bevorsteht.
Der Weg zum Neuanfang
Im November 2024 starteten Rebellengruppen unter der Führung des Bündnisses Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) eine erneute Großoffensive. Von ihrer Machtbasis im Norden aus, wo sie von der Türkei unterstützt wurden, eroberten sie handstreichartig die Großstadt Aleppo und marschierten gen Süden. Sie nutzten aus, dass die syrische Armee unmotiviert und schlecht organisiert war, vor allem aber, dass Russland in der Ukraine abgelenkt war und Israel die benachbarte Hisbollah – und damit dein Einfluss des Irans – schwer dezimiert hatte.
Die Offensive hätte nicht erfolgreicher laufen können. Sie erinnerte an den Vormarsch der Taliban nach dem amerikanischen Rückzug aus Afghanistan: Die Regierungstruppen leisteten nominellen Widerstand, doch ein Zusammenbruch wurde jeden Tag wahrscheinlicher. Am Morgen des 8. Dezembers floh Assad heimlich aus dem Land, evakuiert durch Russland, wo er scheinbar bis heute verbleibt. Seine Regierung kapitulierte umgehend.
Der neue starke Mann im Land war der Anführer der HTS, dessen Namen der Rest der Welt überhaupt noch lernen musste. Ahmed al-Sharaa war bis dahin nur unter seinem Kampfnamen Abu Muhammad al-Jolani aufgetreten; im whathappened-Explainer aus 2024 tauchte der Name al-Sharaa tatsächlich kein einziges Mal auf.

Vom Häftling zum Emir zum Präsidenten
Al-Sharaa war einst – wie die gesamte HTS – mit al-Qaeda verbunden. Er kämpfte drei Jahre lang für die Terrorgruppe im Irak und war von 2006 bis 2011 unter der amerikanischen Militärbesatzung inhaftiert. Kaum freigelassen, gründete er in Syriens soeben begonnenem Bürgerkrieg die islamistische Miliz al-Nusra-Front. Sie war neben der "Freien Syrischen Armee" (FSA) und dem Islamischen Staat (IS) die wohl einzige Miliz in Syrien, welche im Westen vor zehn Jahren eine gewisse Bekanntheit genoß.
Der "Emir" der al-Nusra-Front bewegte seine Miliz früh in eine eher moderate Richtung, zumindest in der Welt des Islamismus. Er lehnte 2014 die Forderungen des IS auf eine Fusion ab, obwohl die Gruppe damals auf dem Höhepunkt ihrer Macht war, und akzeptierte einen bewaffneten Konflikt mit ihr. 2016 brach er auch mit al-Qaeda und ging gegen deren Loyalisten innerhalb der al-Nusra-Front vor. Ein Jahr später fusionierte er die nunmehr etwas moderatere Gruppe mit anderen lokalen Milizen und schuf die HTS.
Die HTS hatte schon ab 2012 eine Hochburg im Nordwesten Syriens erobert, in der Provinz Idlib, nahe der Großstadt Aleppo. Da sich der syrische Bürgerkrieg ab etwa 2015 in ein relatives Gleichgewicht begab (und ab 2020 ein offizieller Waffenstillstand gefunden wurde), musste die HTS in ihren Territorien eine Regierungsfunktion übernehmen. Also sammelte sie Steuern ein, bot öffentliche Dienstleistungen an und stellte Ausweisdokumente aus. Sie regierte autoritär und tolerierte keine politische Opposition. An ihrer Spitze stand Emir al-Sharaa.
Sein Höhenflug sollte sich bekanntermaßen noch fortsetzen. Ab Dezember 2024 wurde al-Sharaa also zum Anführer ganz Syriens, ab Ende Januar 2025 auch ganz offiziell als Präsident.
Syrien heute_
(3 Minuten Lesezeit)

Die Vision
Es war beeindruckend, wie sehr al-Sharaa nach der Machtübernahme jene Worte fand, welche ein westliches Publikum hören wollte. Er versprach demokratische Institutionen, die Einbindung von Minderheiten, eine friedliche Außenpolitik, einen inklusiven wirtschaftlichen Wiederaufbau, eine Rückkehr von Flüchtlingen und für nahöstliche Verhältnisse sogar etwas Liberalismus (z.B. in Form einer "Stärkung der Rolle der Frau"). Das klang konkreter und damit glaubwürdiger, als die meist wertlosen Beteuerungen westafrikanischer Militärjuntas. Doch das muss nicht viel bedeuten, denn selbst ernstgemeinte Absichten können an politischen Realitäten scheitern, zum Beispiel Fraktionsstreits.Wie sieht Syrien heute also aus?
Institutionell befindet sich Syrien derzeit in einer Übergangsphase. Im März wurde eine vorübergehende Verfassung angenommen, welche al-Sharaa weitreichende Macht bietet. Im Oktober wurde ein Parlament gewählt, allerdings nicht durch die Bevölkerung, sondern durch lokale Gremien, welche von der Sharaa-Regierung entschieden wurden – und ein Drittel des Parlaments wird direkt durch den Präsidenten besetzt. Mit der temporären Verfassung und dem Parlament will Syrien eine vierjährige Übergangsphase bestreiten. In ihr sollen weitere Institutionen, Gesetze und auch eine neue Verfassung aufgesetzt werden. Im Anschluss soll es freie Wahlen geben – Syrien wäre zur Demokratie zurückgekehrt.
Der Realität
So viel zu den politischen Absichten. In der Realität ist das politische System derzeit auf al-Sharaa zugeschnitten, welcher viel persönliche Kontrolle behält, womöglich neben weiteren, unbekannten Machtzentren. Seine Dekrete können nur per Zweidrittelmehrheit im Parlament ausgehebelt werden, doch al-Sharaa persönlich wählte ein Drittel der Abgeordneten aus. Die Wahl fand außerdem ohne öffentlichen Wahlkampf statt, womit die Syrer ihre für sie ausgewählten politischen Repräsentanten nicht einmal kennenlernen konnten. Und Parteien sind weiterhin verboten.
Auch die politische Rolle der Frauen hat sich nicht verbessert, entgegen den Versprechen der Regierung. Bei den indirekten Parlamentswahlen im Oktober gingen nur 4 Prozent der 119 Sitze an Frauen, obwohl sie 14 Prozent der Kandidaten ausmachten. Das ist sogar unter dem Niveau der Assad-Ära (ca. 10 Prozent), was ein Indiz für die islamistischen Strömungen innerhalb der Regierung sein könnte. Frauen-NGOs beklagen, dass sich die Lage der Frauen auch jenseits der reinen politischen Repräsentation nicht verbessert und in manchen Feldern – etwa Repressionen gegen Aktivistinnen – sogar verschlechtert habe.
Versorgungsschwierigkeiten
Abseits der Politik ist die Lage für die Syrer heute ein Mix aus deutlicher Verbesserung und wenig Veränderung. Die Geheimpolizei des Assad-Regimes ist verschwunden, plötzliche Entführungen sind Vergangenheit. Im Gegenteil: Die mühsame, allmähliche Aufarbeitung der schweren Menschenrechtsverbrechen aus mehreren Jahrzehnten hat begonnen; Massengräber und Foltergefängnisse werden durchsucht.
Die humanitäre und wirtschaftliche Lage bleibt allerdings desolat, das Ergebnis aus 14 Jahren Konflikt. Die NGO Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF) erkennt weiterhin eine mangelhafte Versorgung mit Dingen wie Wasser, Sanitäranlagen, dem Gesundheitswesen und physischer Infrastruktur. Viele Kliniken würden weiterhin auf minimaler Kapazität operieren. Teilweise habe sich die Situation seit Ende 2024 sogar verschlimmert, was damit zusammenhängen dürfte, dass eine prekäre Wirtschaftslage auf rund 1,5 Millionen zurückgekehrte Flüchtlinge trifft.
Die Wirtschaft
Immerhin gibt es, was die Wirtschaft angeht, Grund zur Hoffnung. Schon im laufenden Jahr dürfte Syrien weitaus schneller wachsen, als die 1 Prozent, welche der Internationale Währungsfonds (IWF) annahm. Die Rückkehr von Flüchtlingen und die Lockerung westlicher Sanktionen (dazu gleich mehr) schaffen enormes Potenzial.
Syrien könnte das Ziel kräftiger Kapitalzuflüsse werden, da der Wiederaufbau des Landes – unterstützt von regionalen Partnern wie Saudi-Arabien – hohe Renditen für Investoren verspricht. Die Aufhebung von Sanktionen wird Syrien wieder an das internationale Finanzsystem anschließen, was dem Land mehr Finanzierungsmöglichkeiten bietet. Hilfsgelder aus dem Westen und den Golfstaaten dürften in Kürze fließen.
Die Zentralbank um ihren Chef Abdul Kader al-Husrieh kristallisiert sich als wichtigster Akteur bei der Steuerung der syrischen Wirtschaft heraus. Husrieh tritt energisch in Interviews auf, um Investoreninteresse und -vertrauen zu wecken, kündigt den Start einer neuen Währung an und präsentiert Kooperationen mit Visa und Mastercard, um digitale Zahlungssysteme ins Land zu bringen. Für Syrien dürfte es insbesondere ein gutes Signal sein, dass die Sharaa-Regierung den Technokraten Einfluss einräumt, statt wirtschaftliche Entscheidungen zu zentralisieren.
Die Minderheiten_
(3,5 Minuten Lesezeit)

Zwei Massaker
Besonders komplex ist der Umgang mit Syriens Minderheiten, wie sich in den vergangenen zwölf Monaten mehrfach eindrucksvoll bewies. Im März 2025 starteten Elemente des Assad-Regimes in dessen früherer Hochburg im Nordwesten einen kleinen Aufstand. Die neue Regierung schlug diesen schnell nieder, doch das ging nahtlos in ein Massaker an rund 1.500 Zivilisten über, welche allesamt Teil der Alawiten-Minderheit waren: jener ethnoreligiösen Gruppe, welcher auch die Assad-Dynastie angehört.
Im Juli kam es dann im Süden des Landes, in der Provinz Suweida, zu gewaltsamen Angriffen von sunnitischen Beduinen auf die ethnoreligiöse Minderheit der Drusen. Zwischen 1.000 und 2.000 Drusen starben; die genaue Aufarbeitung des Gewaltausbruchs gestaltet sich schwierig. Syrische Regierungstruppen scheinen aufseiten der Beduinen an der Gewalt teilgenommen zu haben. Israel intervenierte: Es bombardierte die Angreifer sowie das Verteidigungsministerium in Damaskus und signalisierte, zu einer robusteren Reaktion bereit zu sein.
Wessen Verantwortung?
In beiden Gewaltausbrüchen, gegen die Alawiten und gegen die Drusen, nahm die syrische Zentralregierung eine uneindeutige, doch zweifelhafte Rolle ein. Sie betonte rasch den Wunsch nach Beruhigung, verurteilte die Gewalt und richtete ein Komitee ein, welches die Vorgänge untersuchen soll. Ihre Truppen habe sie stets angewiesen, Gewalt zu unterbinden und die Minderheiten zu schützen; "abtrünnige Elemente" hätten die Gewalttaten verübt. Es gibt jedoch zahlreiche Beweise dafür, dass Regierungstruppen direkt beteiligt waren.
Die genaue Attribuierung der Verbrechen wird dadurch erschwert, dass das syrische Militär noch immer kein einheitlicher Akteur ist. Separate Elemente der inzwischen aufgelösten HTS agieren mitunter wie eigenständige Milizen und Uniformen sind häufig ohne Insignien. Von wo genau Befehle kamen, ist schwer nachzuvollziehen. Am wahrscheinlichsten wirkt, dass die Zentralregierung noch nicht die volle Kontrolle über die bewaffneten Gruppen, die ihr nominell unterstellt sind, besitzt. Auch ein interner Konflikt zwischen moderateren und radikaleren Lagern innerhalb der Regierung ist denkbar. Zu guter Letzt lässt sich nicht ausschließen, dass eine doch recht einheitliche Zentralregierung die Massaker anordnete und darüber öffentlich log.
Gut zu wissen: Mitte November kam es zu einem ersten Gerichtsverfahren aufgrund des Gewaltausbruchs gegen die Alawiten im März. Auffällig war, dass sieben der Angeklagten Assad-Loyalisten waren, weitere sieben zu den Regierungstruppen gehörten – offenbar ein Versuch, Ausgeglichenheit zu zeigen. Insgesamt identifizierte ein von der Regierung eingeführtes Untersuchungskomitee 560 Verdächtige; davon 300 Personen mit Regierungsbezug und 265 Assad-Loyalisten.
Für die Minderheiten im Land haben die Massaker zu einem heftigen Vertrauensverlust geführt, nachdem sie ohnehin von Anfang an skeptisch auf die neue Regierung blickten. Sie betrachteten sie in erster Linie als radikale Islamisten – ähnlich wie das benachbarte Israel und einige Beobachter in aller Welt. Damit einhergehend befürchten sie Repression, Gewalt und kollektive Bestrafung (letzteres v.a. seitens der Alawiten aufgrund ihrer Verbindung zu Assad).
Die Kurdenfrage
Eine dritte nennenswerte Minderheit sind die Kurden. Sie hatten inmitten des Bürgerkriegs de-facto Autonomie im Nordosten Syriens erlangt, in einem Gebiet, das sie Rojava nennen, und waren damit zu einem Machtfaktor im geteilten Syrien geworden. Im neuen Syrien ist das ein Problem, denn der Drang der Kurden nach Autonomie kollidiert mit dem Wunsch vieler Syrer und der Zentralregierung nach nationaler Einheit und Stabilität.
Im März gelang der Sharaa-Regierung und dem kurdischen Militär, den SDF, eine grundlegende Einigung zur Integration des Kurdengebiets in das übrige Syrien. Im Gegenzug würde die Regierung den Kurden vollständige Rechte zusichern und sie als "integralen Bestandteil des syrischen Volkes" anerkennen. Das fand sich jedoch nicht in der Übergangsverfassung wieder und die Regierung weigerte sich auch, Parlamentswahlen in den kurdisch kontrollierten Gebieten durchzuführen (wie auch in der Drusenprovinz Suweida). Das hat die Kurden und Damaskus wieder entfremdet; Gespräche sind weitestgehend zum Erliegen gekommen.
Für Syrien wird die Frage nach dem Umgang mit seinen Minderheiten zentral werden. Dabei geht es längst nicht nur um altruistischen Minderheitenschutz, sondern maßgeblich um die eigene Stabilität. Gelingt keine Einigung mit den Kurden, bleibt das Land zweigeteilt. Besteht Konflikt mit den Alawiten und den Drusen, drohen in diesen Gruppen radikale Elemente an Kraft zu gewinnen. Die internationale Unterstützung und die Sanktionslockerung des Westens stehen auf dem Spiel. Und Israel hat bereits bewiesen, zu Interventionen zugunsten der Drusen bereit zu sein. Allgemein gilt: Je instabiler Syrien, desto stärker ist es den Einflüssen von Regionalmächten wie der Türkei, dem Iran und Israel ausgeliefert.
Die Außenpolitik_
(3,5 Minuten Lesezeit)

Keine Feinde?
Am meisten bewegt hat sich in der Außenpolitik. Das neue Syrien ist kein iranisches Protektorat mehr, kein unsinkbarer russischer Flugzeugträger. Es pflegt zu den Unterstützern des Assad-Regimes ein vorsichtiges, distanziertes Verhältnis, hat aber auch nicht alle Brücken abgerissen. Mitte Oktober besuchte al-Sharaa gar Moskau, führte ein freundliches Gespräch mit Wladimir Putin und deutete an, dass Russland Zugang zu seinen Militärbasen im Nordwesten des Landes behalten könne. Diese sind für die russischen Operationen im Nahen Osten und in Afrika äußerst wichtig.
Statt des russisch-iranischen Bündnisses besinnt sich Syrien auf jene Teile der Nachbarschaft, zu welchen es unter Assad kein gutes Verhältnis hatte. Die Türkei, welche die HTS und andere Gruppen jahrelang im Norden unterstützt hatte und jetzt womöglich am meisten Einfluss auf Damaskus besitzt, und die arabischen Golfstaaten rund um Saudi-Arabien, welche sich als wichtiger Partner herauskristallisieren, vor allem was den Wiederaufbau betrifft.
Gen WestenSaudi-Arabien dürfte es auch gewesen sein, welches einen Westruck Syriens ermöglicht hat. Al-Sharaa machte von Anfang an klare Overtüren an die EU und die USA, doch es war die Vermittlung Riads, welche zu einem persönlichen Treffen mit Donald Trump führte. Daraufhin ließ Trump im Juni per Dekret die heftigen Wirtschaftssanktionen gegen Syrien aufheben, was Mitte Dezember vom US-Kongress bestätigt wurde. Bereits Mitte November wurde al-Sharaa zum ersten Staatschef in Syriens Geschichte, welcher Washington besuchte. Das Treffen lief offenkundig gut: Donald Trump nannte al-Sharaa einen "jungen, attraktiven Kerl" und einen "Kämpfer". Syrien schloss sich der amerikanischen Anti-IS-Koalition an und Medien berichteten, dass die USA eine Militärbasis in Damaskus beziehen würden.
Davon zu sprechen, dass Syrien "prowestlich" sei, ist verfrüht und vermutlich generell nicht angebracht. Doch der einstige Paria hat heute ein konstruktiv-positives Verhältnis nach Washington und Europa. Das wird auch in Syrien selbst positiv und mit Stolz aufgenommen, sogar Sharaa-Kritiker loben dessen außenpolitische Erfolge.
Israel
Ein besonderes Verhältnis ist jenes zu Israel. Der Nachbar, mit welchem seit Jahrzehnten offiziell Kriegszustand herrscht, kontrolliert seit 1967 die strategisch wichtigen Golanhöhen direkt an der Grenze. Im Zuge der Umstürze 2024 weitete Israel sein kontrolliertes Gebiet aus – zwar nur marginal, auf einer Karte gerade so erkennbar, doch es war dennoch die erste Grenzverschiebung seit fast 60 Jahren. Anfangs hieß es, dass sie temporär sei, doch neue Befestigungen deuten auf eine langfristige Besatzung hin und auch die Rhetorik in Jerusalem wandelt sich inzwischen dahingehend.
Nicht nur das: Israel führte ab Dezember 2024 zahlreiche Luftangriffe auf Militärkapazitäten in Syrien durch, zum Beispiel auf Munitionslager. Das nahm im Jahresverlauf zwar ab, doch Ende November 2025 startete die israelische Armee dafür eine Razzia in einem Dorf in Syrien, wo sie libanesische Milizionäre entführte, da diese mutmaßlich einen Terrorangriff planten. Die Operation mit 13 Toten sorgte in Syrien für viel Aufsehen und Verärgerung.
Die al-Sharaa-Regierung reagierte meist relativ besonnen, beschwor den Wunsch nach friedlichen Beziehungen und rief Israel zur Entspannung auf. Sie hatte beileibe keine Befähigung zu einer direkten Gegenreaktion, doch wählte auch rhetorisch eine auffällig vorsichtige Linie. Hilfe kam aus den USA: Die Trump-Regierung machte Druck auf Israel, mit Damaskus ins Gespräch zu treten und die Lage zu beruhigen.
Für Damaskus ist die Situation mit Israel dabei mehr als nur ein Ärgernis. Die israelische Besatzung und Aktionen wie die Razzia könnten innenpolitisch Druck auf al-Sharaa aufbauen und radikalere Fraktionen stärken. Zugleich spricht Israels Premier Netanjahu ominös davon, dass sich die "Mission" in Syrien "jederzeit entwickeln könnte". Impliziert ist, dass Israel auf ungenehme Entwicklungen in Damaskus oder in der Drusen-Region Suweida mit Operationen ähnlich wie im Libanon reagieren könnte.
Gut zu wissen: Anfang Dezember erklärte al-Sharaa beim alljährlichen Doha Forum in Qatar: "Israel [...] versucht, vor den schrecklichen Massakern in Gaza zu fliehen, indem es versucht, Krisen zu exportieren. Israel ist ein Land geworden, das gegen Geister kämpft. Seit unserer Ankunft in Damaskus haben wir positive Botschaften hinsichtlich des Friedens und der Stabilität in der Region gesendet … und dass wir kein Interesse daran haben, ein Land zu sein, das Konflikte exportiert, auch nicht nach Israel. Aber im Gegenzug ist Israel uns mit extremer Gewalt begegnet." Das waren seine bislang schärfsten Äußerungen gegen Israel – für nahöstliche Verhältnisse eine geradezu moderate Rhetorik.
Ein Fazit_
(2 Minuten Lesezeit)

Syrien befindet sich heute an einem Scheideweg. Die Regierung verspricht Demokratisierung und bringt dafür tatsächlich einige der nötigen Institutionen auf den Weg. Wenn Kritiker anmerken, dass das Wahlsystem zu stark auf al-Sharaa zugeschnitten ist, haben sie recht; wenn dieser erwidert, dass in Syrien derzeit keine direkten Wahlen abgehalten werden können, er allerdings ebenso.
Viele Versprechen zu mehr sozialer und politischer Inklusion haben sich noch nicht bewahrheitet. Das weckt bei manchen Beobachtern Sorgen, dass sich das neue Syrien doch tiefer in einen politischen Islamismus lehnen wird, als angedeutet. Doch gleichzeitig ist die tiefe Repression der Assad-Ära Vergangenheit; die meisten Syrer leben heute mit mehr Rechten und Freiheiten.
Die meisten Syrer. Unter den Minderheiten des Landes herrscht kaum noch Vertrauen in die Sharaa-Regierung, nach zwei undurchsichtigen Massakern und einem als exkludierend empfundenen Wahlprozess. Die Regierung bemüht sich um positive Rhetorik und juristische Aufarbeitung, doch die Skepsis sitzt tief.
Für Syrien dürfte die Minderheitenfrage zur größten und entscheidendsten Frage geraten. Ohne eine Einigung mit den Kurden kann das Land nicht komplett sein und steht im allerschlimmsten Fall vor einem erneuten Bürgerkrieg; und Instabilität mit den Alawiten oder Drusen lädt ausländische Einflussnahme oder Konflikt mit Israel ein.
In der Außenpolitik ist der Umgang mit Israel zwar nominell derzeit das größte Problem, doch in Wahrheit dürften Damaskus andere Themen stärker beschäftigen. Die Türkei, Iran, Russland, Saudi-Arabien und der Westen werden versuchen, ihren Einfluss geltend zu machen; proiranische Milizen im Libanon und im Irak ebenso. Die Türkei hält nach wie vor große Gebiete im Norden besetzt. Und der Islamische Staat stellt ein anhaltendes Sicherheitsrisiko in der Peripherie dar.
Das sind zumindest die außenpolitischen Risiken, doch aktuell gibt es vornehmlich Erfolge zu bezeichnen. Syrien besitzt konstruktive Verhältnisse zu alten Feinden und alten Verbündeten. Das hat auch zu jenem Sanktionsabbau geführt, welcher für das Land 2026 zu einem kräftigen Wirtschaftswachstum führen könnte – der Anfang eines langsamen Aufstiegs aus 15 Jahren Verarmung.
Die meisten Syrer blicken mit bemerkenswertem Optimismus auf die aktuelle Lage. Sie wissen um die schleppende Demokratisierung, die exponierte Position ihres Landes im Nahen Osten und die schwache Versorgungssituation. Doch sie erkennen dennoch positive politische und wirtschaftliche Entwicklungen voraus. Sie konnten vielleicht nicht in der jüngsten Parlamentswahl wählen, doch dafür wählen sie eben mit ihren Füßen: 1,5 Millionen Menschen sind seit dem Sturz von Assad ins Land zurückgekehrt.
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