In einer Woche wählt der Inselstaat. Was erwartet ihn?
Trennung | Entscheidung | Warnung
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07.01.2024
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Taiwan wählt in einer Woche Präsidenten und Parlament.
- Die Pro-Unabhängigkeit-Partei DPP liegt knapp vor der prochinesischen KMT, verkompliziert wird die Rechnung diesmal durch eine besonders starke zentristische Drittpartei, die TPP.
- Der Panda im Raum: China droht Taiwan, dass ein DPP-Sieg Konflikt bedeute und mischt sich spürbar in die Wahl ein.
- Peking betrachtet Taiwan als eigenes Staatsgebiet und pocht auf die "Ein China"-Formel, welche die KMT akzeptiert, die DPP allerdings nicht.
- Im Vorfeld der Wahl gab es seitens China militärische Drohgebärden und Einflussoperationen; sollte die DPP gewinnen, dürften diese intensiviert weiterlaufen.
- Ein Krieg ist akut sehr unwahrscheinlich, lässt sich mittelfristig aber nicht ausschließen. Diese Wahl wird ihn nicht auslösen, aber seine zukünftige Wahrscheinlichkeit beeinflussen.
Trennung_
(4 Minuten Lesezeit)
In einer Woche, am 13. Januar, wählt Taiwan seinen Präsidenten und sein Parlament. Da Taiwan eine von drei stabilen Demokratien in Ostasien ist, ist die Wahl über das Land hinaus wichtig. Nicht zu vergessen, dass sie die chinesische "Taiwan-Frage" beantworten könnte und damit die Lage im Indopazifik über die kommenden Jahre mitbestimmen wird. Zeit, für eine kurze Auffrischung über den China-Taiwan-Konflikt, dann ein Blick auf die aktuelle politische Gemengelage.
Gut zu wissen: 2024 wird ein gigantisches Wahljahr mit über 50 Wahlen. Die Wahl in Taiwan stößt das Jahr an.
Zwei Sonnen am Himmel
Taiwans Geschichte begann praktisch im Jahr 1949, nachdem es davor ein langes Dasein als chinesische und später japanische Kolonie gefristet hatte. Nationalchina hatte soeben den 22-jährigen Bürgerkrieg gegen die Kommunisten verloren. Die chinesische Regierung unter Chiang Kai-shek und seiner Kuomintang-Partei floh mit über 2 Millionen Menschen, den Staatskoffern, Hunderttausenden Museumsartefakten und allem Material, das gegriffen werden konnte, auf die Insel Taiwan. Dort setzte sie ihre Existenz als "Republik China" (ROC) fort und bekriegte sich jahrzehntelang mit der neu gegründeten "Volksrepublik China" (PRC) auf dem Festland.
Mit der Zeit kühlte der Konflikt herab, auch aufgrund der Intervention der USA, welche sowohl ROC als auch PRC zwangen, von Eskalationen abzusehen. Eine geordnete Koexistenz stellte sich ein, welche im "Konsens von 1992" unter dem Prinzip "Ein China" formalisiert wurde. ROC und PRC erkannten beide an, dass es nur ein China gebe, doch dass sie uneins seien, wer von beiden das eine China sei. Das ebnete den Weg für enge wirtschaftliche und kulturelle Verbindungen, ohne das Ziel einer Wiedervereinigung fundamental aufzugeben ("Der Himmel ist nicht groß genug für zwei Sonnen", so Chiang Kai-shek einst). Taiwan erklärte nie formell seine Unabhängigkeit, obwohl es zugleich faktisch ein unabhängiger Staat ist.
Taiwan begann als zutiefst autoritäres System unter Generalissimo Chiang Kai-shek und dessen Kuomintang. Demokratische Institutionen existierten nur als Feigenblatt, (vermeintliche) politische Feinde wurden im "Weißen Terror" misshandelt und das 38 Jahre lang verhängte Kriegsrecht wurde in der Geschichte der Welt nur von Syrien (1963 bis 2011) geschlagen. Besonders schlecht erging es der indigenen austronesischen Bevölkerung, welche von den zugewanderten Han-Chinesen strukturell diskriminiert wurde.
Gut zu wissen: Wir sprechen in diesem Explainer gelegentlich von "Wiedervereinigung", und zwar anders als hier ohne Anführungszeichen. Die Frage, wie zutreffend der Begriff ist, führt einen in eine Identitäts- und Semantikdebatte: Die Kommunistische Partei regierte Taiwan niemals, "China" tat es sehr wohl. Ist die Volksrepublik China heute dasselbe China wie bis 1895, als Taiwan an Japan verloren ging? Die whathappened-Redaktion tendiert zu einem Nein, doch erlaubt sich der Einfachheit halber die Nutzung des Wortes ohne Anführungszeichen.
Der Weg zur Demokratie
In den 1980ern stoß Chiangs Sohn Chiang Ching-kuo eine bedeutende Demokratisierung an, welche bis 1996 zu den ersten allgemeinen Wahlen und damit in die heutige konsolidierte Demokratie führte. Es ist bis heute in seiner Geschwindigkeit und Vollständigkeit einer der erfolgreichsten Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse der Menschheitsgeschichte: Taiwans Wahlen sind kompetitiv, die Institutionen robust, die Medien frei und die Bevölkerung politisiert. Ein großer Grund waren der Druck der USA und die Realisierung der ROC-Führung, dass Taiwan gegenüber der diplomatisch und wirtschaftlich immer bedeutsameren Volksrepublik nur in einem Bündnissystem bestehen konnte. Also wählte es die USA und die liberaldemokratische westliche Welt.
Die politische Landschaft Taiwans lief schnell auf zwei Parteien oder genauer Parteienbündnisse hinaus. Die Kuomintang (KMT), welche nunmehr als gemäßigt-konservative Partei und nicht als Plattform der Diktatur operierte, und die sozialliberale Demokratische Fortschrittspartei (DPP). Beide stehen einer Reihe kleinerer Parteien vor, jeweils in der Pan-grünen Koalition um die DPP und in der Pan-blauen Koalition um die KMT. 1996 siegte die Kuomintang in den Wahlen, 2000 wurde sie von der DPP abgelöst. 2008 folgte wieder die Kuomintang, 2016 dann die DPP, welche bis heute regiert.
Unser Explainer "China und Taiwan" (2021) wirft einen tieferen Blick auf die Geschichte Taiwans. Der Link folgt erneut am Ende dieses Explainers.
Die China-Frage
Ein großer Unterschied zwischen den Parteien ist der Umgang mit China und der eigenen Identität. Ironischerweise ist es die Kuomintang, welche für engere Verbindungen zu China steht und die Ein-China-Politik ernster nimmt, was mit der stärkeren chinesischen Identität in der Partei zusammenhängt. In diesem Sinne hält sie wenig von einer separaten Identität als "Taiwan", geschweige denn einer formellen Unabhängigkeit, sondern präferiert den Status Quo in all seiner Mehrdeutigkeit. Die DPP blickt dagegen mit viel Skepsis auf China und sieht die Unabhängigkeit als oberste Priorität, auch wenn sie mit Rücksicht auf die cross-strait relations, also zu China, keine offizielle Unabhängigkeitserklärung ausspricht. Sie verweigert allerdings eine Anerkennung des Konsenses von 1992, also der Ein-China-Politik. Sie steht außerdem für eine dedizierte Identität als "Taiwan", hinter welcher "Republik China" in den Hintergrund rückt.
Zugegeben: Diese Darstellung verschluckt viel Meinungspluralismus und Nuance in beiden Parteien. Die Frage nach den China-Beziehungen, der eigenen Identität und dem Umgang mit Unabhängigkeit ist aber ohne jeden Zweifel eine zentrale Trennlinie in Taiwan, auch wenn sie in der Alltagspolitik oft hinter "normaleren" Themen verschwindet.

Entscheidung_
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Lay of the Land
In die jetzige Wahl geht Taiwan in der gewohnten Konstellation, aber mit einem gewissen Extra. Die liberale DPP regiert derzeit unter Präsidentin Tsai Ing-wen, welche allerdings wegen Amtszeitlimits nicht noch einmal antreten darf. Stattdessen tritt Vizepräsident William Lai (eigentlich Lai Ching-te) als Kandidat an. Sein Herausforderer von der KMT ist Hou Yu-ih, derzeit Bürgermeister von Neu-Taipeh, welches die Hauptstadt Taipeh umschließt.
Ungewöhnlicherweise gibt es diesmal einen Drittkandidaten, welcher tatsächlich viel Auswirkung auf die Wahl haben könnte. Die erst 2019 gegründete Taiwan People's Party (TPP) sieht sich als zentristische Brechstange für die DPP-KMT-Dominanz und schneidet mit durchschnittlich 24 Prozent in den Umfragen für die Präsidentschaftswahl stark ab - zumindest für eine Drittpartei. Die KMT landet darüber mit 31 Prozent, die DPP an erster Stelle mit 36 Prozent. Selbstverständlich sind das aber nur Umfragen und die Ergebnisse variieren; in einigen Befragungen landete die KMT vor der DPP. Es bleibt also kompetitiv.
Gut zu wissen: Die Hauptfarbe der TPP ist türkis, was ebenfalls signalisieren soll, dass sich die TPP in der Mitte zwischen blauer KMT und grüner DPP sieht. Gerade bei jungen Wählern kommt die neue Partei gut an.

Ein Weilchen sah es so aus, als könnte der KMT ein großer Coup gelingen: Sie diskutierte mit der TPP ein Bündnis. Streitpunkt war allerdings, ob die KMT oder die TPP den Präsidenten stellen würde, denn bis November 2023 waren die Kandidaten der zwei Parteien in Umfragen Kopf-an-Kopf. Die Gespräche scheiterten und eine Allianz aus KMT und TPP kam nie zustande. Zu zweit hätte die regierende DPP die Parteien vermutlich nicht schlagen können. Nun hat William Lai gute Chancen, Präsident zu werden, auch wenn ihm die KMT an den Fersen ist. Im letzten Moment könnten viele Unterstützer der TPP die Drittpartei aufgeben und zu den zwei großen Parteien zurückwechseln, was das Ergebnis unvorhersehbar macht (es hilft nicht, dass seit einigen Tagen keine Umfragen mehr erlaubt sind). Denkbar ist auch, dass etwa die DPP die Präsidentschaft erringt, aber im Parlament keine Mehrheit besitzt und die TPP damit legislativ zur Königsmacherin wird, welche je nach Thema mit der einen oder anderen Partei zusammenarbeitet.
Der Panda im Raum
Das größte Thema im Wahlkampf war nicht unbedingt der China-Taiwan-Konflikt, welcher das Bild des Inselstaats im Westen dominiert. Steigende Wohnungspreise, stagnierende Gehälter und Energiesicherheit beschäftigten die Menschen in den vergangenen Monaten mehr als das Gespenst der Geopolitik. Für die DPP war das nicht unbedingt von Vorteil, denn sie war die letzten 8 Jahre in Regierungsverantwortung und wird von jungen oder enttäuschten Wählern längst als Establishment verstanden.
Nicht, dass die Geopolitik nicht wichtig wäre; sie lauert stets im Hintergrund und wird regelmäßig in den Vordergrund gerissen. Ganz im Sinne der DPP-Linie bezeichnete sich William Lai einst als "pragmatischer Arbeiter für die Unabhängigkeit Taiwans". Aussagen wie solche machen ihn zum Hassobjekt für China, dessen Staatsmedien forderten, Lai für Sezession zu verhaften und ihn einen "Unruhestifter durch und durch" nannten. Der 64-jährige Politveteran und gelernte Nierenarzt driftet aber auch nicht allzu sehr ins Radikale ab: Man müsse keine Unabhängigkeit erklären, da man es ja bereits faktisch sei; und mit China wolle man "Freunde" sein, nicht verfeindet. Doch auch Lai weigert sich, die Ein-China-Politik zu bestätigen und das ist für Peking inakzeptabel. Lais erwählte Vizepräsidentin nervt den Nachbarn noch mehr: Hsiao Bi-khim ist in Japan geboren worden und in den USA aufgewachsen, wo sie zuletzt Botschafterin war. Sie sei eine "eingefleischte Separatistin", so Peking, welches sie mit Sanktionen überzogen hat.
Gut zu wissen: Hsiao nennt sich in Bezug auf ihren Diplomatiestil eine "Katzenkriegerin", eine Anspielung auf Chinas aggressive, bis vor Kurzem aktiv betriebene "Wolfskrieger"-Diplomatie. "Katzen sind viel liebenswerter als Wölfe", so Hsiao in einem Interview, "in der Diplomatie geht es darum, Freundschaften zu schließen". Hisaos Hauskatze und Lais Hund sind übrigens auch die Maskottchen im Wahlkampf der DPP.

Wie Hou Yu-ih von der Kuomintang auf die China-Frage blickt, ist überraschend unklar. Der 66-jährige ehemalige Polizist und recht erfolgreiche Bürgermeister von Neu-Taipeh scheint sich zu weigern, seine Meinung zu äußern. Bekannt ist nur, dass er die taiwanische Unabhängigkeit ablehnt - das bedeutet nicht, dass er eine Wiedervereinigung mit China anstreben würde, aber dass "Republik China" eben wieder vor "Taiwan" priorisiert würde. Sein Vizepräsident, Jaw Shaw-kong, ist da klarer: Der 73-Jährige plädiert seit Jahrzehnten für eine Wiedervereinigung, auch wenn er einräumt, dass diese aktuell in Taiwan wohl nicht durchsetzbar wäre.
Die TPP positioniert sich stilgerecht zwischen den beiden Parteien und kritisiert sie gleichermaßen: Die DPP sei "pro-Krieg", da sie China mit ihrem Turteln mit der formellen Unabhängigkeit unnötig provoziere; die KMT sei "zu ehrerbietig" gegenüber dem Nachbarn.
Und die Taiwaner? Finden sich am ehesten in der Position der TPP wieder, doch mit Tendenz zur DPP. Sie sehen sich zu zwei Dritteln eher als Taiwaner denn als Chinesen (siehe Grafik oben) und nur 7,4 Prozent möchten eine Vereinigung mit China (siehe Grafik unten). Doch zugleich wünschen sie sich möglichst gute und entspannte Beziehungen und halten die formelle Unabhängigkeit für keine dringende Priorität (nur 21,4 Prozent wollen darauf zuarbeiten und nur 4,5 Prozent wollen sie schnellstmöglich). Am beliebtesten ist es, den Status Quo zu verwalten: Fast 61 Prozent sprechen sich dafür aus. "Permanent verwalten" und "Vorübergehend verwalten und später entscheiden, was man tut" halten sich dabei in etwa die Waage. In ihren Extrempositionen treffen also weder KMT noch DPP die Stimmung im Volk. Wenn Lai versichert, den Status Quo nicht anfassen zu wollen, so ist das nicht nur an Peking, sondern auch an das eigene Wahlvolk gerichtet.

Gut zu wissen: Die Ergebnisse in Meinungsumfragen können recht stark abweichen. In einer Umfrage der Taiwanese Public Opinion Foundation im September 2023 sprachen sich 48,9 Prozent für Unabhängigkeit aus, 11,8 Prozent für eine Vereinigung mit China und 26,9 Prozent für das Aufrechterhalten des Status Quo. Das weicht deutlich von der Zeitreihe des Election Study Centers (ESC) der National Chengchi University, deren letzte Daten aus Juni 2023 stammen, ab. Grund dürfte in erster Linie sein, wie genau die Frage gestellt wird, doch die ESC-Umfragen arbeiten auch mit deutlich größeren Stichproben.
Chinas wachsame Augen_
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Für China geht es in der Taiwan-Frage um den Ausbau des eigenen Einflusses, das Zurückdrängen amerikanischen Einflusses und nationalen Stolz. Ein "Jahrhundert der Erniedrigung" (gemeint sind Kolonialismus und imperialer Verfall) war 1949 endlich zurückgedrängt worden, so zumindest die kommunistische Geschichtsschreibung. Allerdings blieben die darauffolgenden 30 Jahre pures Chaos. Erst danach begann China seinen langsamen, dann rasanten Aufstieg. Heute fühlt sich die Erniedrigung tatsächlich beendet an, doch Taiwan ist zum Lackmustest für die eigene Stärke geworden. Gerade Xi Jinping hat die Taiwan-Frage in China dermaßen nationalistisch und teilweise kriegslüstern aufgepeitscht, dass eine Wiedervereinigung für viele Chinesen völlig selbstverständlich ist. Die Insel gehörte zu uns, wir sind mächtig, also muss sie wieder zu uns gehören. Es sei eine "historische Unumgänglichkeit", so Xi in einer Rede am 31. Dezember.
Chinas Wahl findet in Taiwan statt
Pekings Drohgebärden gegen Taiwan sind kaum noch subtil. Bis 2049, dem hundertjährigen Jubiläum der Volksrepublik, müsse die Wiedervereinigung erreicht werden, wahlweise friedlich oder militärisch, so Xi. Laut westlichen Geheimdiensten habe er die Streitkräfte angeordnet, bis 2027 imstande zu sein, eine Invasion durchzuführen (er weist das zurück). Das bedeutet nicht, dass sich Xi zu dieser bereits entschlossen hätte, doch zeigt, dass er sich alle Optionen offen halten möchte. Auch die sehr regelmäßig gewordenen Verletzungen der taiwanischen Luftidentifikationszone (nicht mit dem engeren Luftraum zu verwechseln) und groß angelegte Marineübungen, in welchen die Insel umstellt wird, sind ein klares Zeichen: Wenn nicht friedlich, dann womöglich kriegerisch.
Bereits vor der Wahl hat Peking diese Zeichen intensiviert. Mit einer Intensivierung seiner militärischen Drohgebärden und groß angelegten Einflussoperationen versucht es, die Taiwaner zur Wahl des China-freundlichen KMT-Kandidaten zu bewegen (Taiwan kündigt nach der Wahl einen Report an, welcher Chinas Einmischung darlegen soll). Sollte Lai siegen, werde es kein "Abwarten und Beobachten" geben, so chinesische Diplomaten ominös: Es werde umgehend klargestellt, dass Taiwan den Weg des Friedens aufgegeben habe.
Auch solche rhetorischen Drohungen dürften lediglich ein Weg sein, Einfluss auf die Wahl auszuüben. China versucht, sie als Entscheidung zwischen Krieg und Frieden darzustellen. Es spricht allerdings nicht nur zu einem Publikum in Taiwan, sondern auch in den USA, welches es zum Eindämmen der Pro-Unabhängigkeit-Fraktionen in Taiwan aufruft, und zuhause, wo die immer nationalistischere Bevölkerung eine strengere Linie gegenüber den "abtrünnigen" Taiwanern einfordert.
Gut zu wissen: Die USA sind die wichtigste Schutzmacht Taiwans. Die Andeutung, dass die USA zur Verteidigung der Insel schreiten würden, ist ihre wichtigste Abschreckung gegen eine chinesische Invasion (Explainer). Washington sympathisiert mit der DPP, zügelt zugleich aber regelmäßig ihre Bestrebungen nach Unabhängigkeit.
Kann es Krieg geben?
Ein tatsächlicher Krieg ist bei rationaler Betrachtung unwahrscheinlich. Er wäre teuer und riskant für die Kommunistische Partei, deren Legitimation in wirtschaftlicher Dynamik und gesellschaftlichem Frieden liegt. Eine Invasion, welche die USA und andere Nachbarn hineinziehen oder zu Wirtschaftssanktionen verleiten könnte, würde beides gefährden. Auch wäre ihr Erfolg nicht gesichert, denn Chinas konventionell-militärische Übermacht wird durch Taiwans gut verteidigbare Geografie gekontert. In unserem Explainer "Taiwan lernt von der Ukraine" (2022) erklärten wir das militärische Gleichgewicht und die Debatte in Taiwan genauer (Link auch am Ende des Texts).
Bekannt ist allerdings auch, dass Politik nicht immer rational läuft. Persönliche Prioritäten, Risikotoleranz, mangelhafte Informationen oder Fehleinschätzungen können in eine hochriskante Entscheidung führen, wie auch der Ukrainekrieg bewiesen hat. Ein Krieg lässt sich also nicht ausschließen. Jeder Schritt zur formellen Ausrufung der Unabhängigkeit Taiwans dürfte die Wahrscheinlichkeit erhöhen, denn eine "friedliche Wiedervereinigung" würde für China vor der eigenen Bevölkerung immer schwerer vermittelbar.
In jedem Fall sollte kein Krieg im Anschluss auf diese Wahl befürchtet werden. Peking wird nicht die Invasion starten, wenn die DPP siegt. Doch womöglich rückt das entsprechende Dossier auf dem Schreibtisch des Paramount Leader in Peking etwas weiter vor.
Ein Sieg der KMT unter Hou würde zumindest zeitweise Entspannung bringen. Diese bliebe aber womöglich nicht langlebig. China könnte frustriert darüber sein, wie wenig Spielraum für Annäherung die Stimmung in Taiwan einem Präsident Hou bieten würde, schließlich ist das Taiwan heute nicht mehr dasselbe wie 2000 bis 2008, beim letzten KMT-Präsidenten. Und auch die Erwartungen zwischen Peking und KMT sind nicht mehr ganz kongruent: Während die KMT "Ein China" eher als Zauberformel sieht, um den Status Quo mit freundlicheren Beziehungen zu verwalten, deutete Xi 2019 an, darunter ein Hongkong-Modell zu verstehen: Taiwan unter chinesischer Herrschaft, aber mit gewisser Autonomie. Am Ende könnte ausgerechnet ein Sieg der prochinesischen Kuomintang das Fenster für eine "friedliche Wiedervereinigung" schneller schließen, denn bei einem DPP-Sieg bliebe die Hoffnung einer Annäherung nach der nächsten Wahl; ein KMT-Sieg könnte zeigen, dass das stets nur Illusion war.
Egal, wer siegt, die Wahl in Taiwan wird ein Sieg für die Demokratie. Sie wird fair und frei ablaufen, die Machtübergabe wird friedlich stattfinden und der Wahlsieger wird die Bevölkerung und die Institutionen respektieren. Damit wird es ein guter und einfacher Einstieg in ein Mega-Wahljahr, welches in seinem Verlauf deutlich fragwürdigere Abstimmungen bieten wird. Daran kann selbst Chinas Einmischung nichts ändern.