July 22, 2024
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12 Minuten Lesezeit

USA: Die Demokraten am Scheideweg

Die Partei und ihr Präsident müssen entscheiden, wer im November zur Wahl antritt. Jede Entscheidung hat Risiken. (Juli 2024)
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Die Partei und ihr Präsident müssen entscheiden, wer im November zur Wahl antritt. Jede Entscheidung hat Risiken.
21.07.2024

Warum Biden gehen sollte | Warum Biden bleiben sollte | Ein kleines Fazit
(17 Minuten Lesezeit)

Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)

  • Bei den US-Demokraten findet ein Tauziehen statt: Zwei Drittel der Wähler und immer mehr Parteigranden möchten Joe Biden als Kandidaten für die Präsidentschaftswahl ersetzen.
  • Dafür sprechen seine schlechten Umfragewerte mitsamt Gefahren für "down ballot"-Wahlen sowie die gestiegenen Zweifel an seiner Verfassung.
  • Andersherum würden die Demokraten den Amtsinhaberbonus und womöglich Geld aufgeben und sich viel Risiko aussetzen.
  • Denn egal, ob sie den Ersatzkandidaten "krönen" oder demokratisch zur Wahl stellen, eine Selbstzerstörung lässt sich nicht ausschließen und es gibt keine Garantie, dass der neue Kandidat stärker als Biden wäre.
  • Intuitive Nachfolgerin wäre Vizepräsidentin Kamala Harris, welche auch unerwartet gute Umfragewerte aufweist.

Der Scheideweg_

Ein Politspektakel in den USA bietet Anlass für den ersten Explainer zur US-Wahl 2024: Die Demokraten erwägen, ihren inoffiziellen Kandidaten und Amtsinhaber Joe Biden für die Präsidentschaftswahl fallen zu lassen. Grund ist selbstverständlich die desaströse TV-Debatte von Ende Juni und das, was sie über Bidens Verfassung und Wahlchancen impliziert haben könnte. Wirklich "erwägen" tun die Demokraten den Austausch nicht, da nur der Präsident selbst seine Kandidatur aufgeben kann. Doch Berichten zufolge machen immer mehr Spitzendemokraten hinter den Kulissen Druck und eine kleine zweistellige Zahl hat sich bereits offen geäußert.

Die Liste der (mutmaßlichen) "Abweichler" ist lang und prominent: Ex-Unterhauschefin Nancy Pelosi hat halboffen Zweifel geäußert, ihr Vertrauter Adam Schiff, ein Abgeordneter, sogar öffentlich. Senatschef Chuck Schumer habe mutmaßlich auf Biden eingewirkt und der Anführer der Demokraten-Minderheit im Unterhaus, Hakeem Jeffries, angeblich ebenso. Barack Obama, unter welchem Biden von 2009 bis 2017 Vizepräsident in einem nicht immer harmonischen Verhältnis war, soll privat Sympathien für einen Abtritt angedeutet haben. Und sogar Bidens wichtiger Verbündeter Jim Clyburn, welcher viel Einfluss bei den schwarzen Wählern der Demokraten besitzt und Bidens Kandidatur 2020 gerettet haben dürfte, sinniert offen über Post-Biden-Szenarien. Berater im Weißen Haus und Mitarbeiter der Biden-Wahlkampagne werden anonym damit zitiert, dass die Stimmung kippe. 

Bei vielen dieser Berichte handelt es sich um Spekulation. Nur eine sehr kleine Zahl an Demokraten hat sich bislang offen gegen Biden gestellt. Und doch ist die Menge, Intensität und Hartnäckigkeit der Berichte beachtlich – die stille Meuterei läuft seit drei Wochen und ließ sich auch nicht von dem Attentatsversuch auf Donald Trump stoppen. Und 65 Prozent der Demokraten-Wähler sprechen sich inzwischen für einen Kandidatenwechsel aus (AP-NORC Umfrage), mehr eine Verdopplung gegenüber vor einigen Wochen. Es ist keineswegs gesichert, doch tatsächlich realistisch, dass Joe Biden abtritt. Was wären die Implikationen? Und was sind aus Sicht der Demokraten die Argumente dafür und dagegen?

Warum Biden gehen sollte_

(7 Minuten Lesezeit)

Miserable Umfragen

Das Argument für einen Austausch Bidens ist relativ einfach. Seine Zustimmungswerte sind nicht sonderlich gut. 56 Prozent der Amerikaner lehnen ihn ab, nur 38,5 Prozent befürworten seine Arbeit, wie ein "Poll of Polls" (quasi eine Meta-Umfrage) von FiveThirtyEight zeigt. Das ist der schlechteste Zustimmungswert, den irgendein Präsident der vermutlich letzten Hundert Jahre zu diesem Zeitpunkt seiner Amtszeit besaß. Selbst Donald Trump war mit 39,9 Prozent Zustimmung ein wenig beliebter und mit 55,5 Prozent weniger unbeliebt. Mit seiner "Nettobeliebtheit" von minus 17,5 Punkten kommt Biden derzeit historisch am drittschlechtesten weg. Dass ausgerechnet George H. W. Bush und Jimmy Carter, die zwei Präsidenten, die an der Wiederwahl scheiterten, hinter ihm liegen, ist kein aufmunterndes Signal für Biden.

Auch in einem direkten "Matchup" mit Donald Trump liegt Biden meist ein wenig hinten, wobei die Umfragen teils stark voneinander abweichen. Um erneut die Agglomeration von FiveThirtyEight heranzuziehen: Am 19. Juli lag Trump im Schnitt mit 43,4 Prozent vor Biden mit 40,1 Prozent. Ausgerechnet in jenen "battleground states", welche die US-Wahl aufgrund ihres Mehrheitswahlrechts faktisch entscheiden werden, hat Trump allerdings noch etwas mehr Vorsprung. Und Biden begeistert selbst seine Basis nicht: In einer CNN/SSRS-Umfrage erklärten 63 Prozent der zu Biden tendierenden Wähler, dass es sich um ein Votum gegen Trump handle; nur 37 Prozent sehen darin in erster Linie eine Stimme für Biden. Bei den Republikanern verhält es sich mit Donald Trump genau andersherum.

Nun sind Umfragen nicht völlig verlässlich, vor allem in den polarisierten USA mit ihrem Mehrheitswahlsystem, in welchem besagte battleground states überproportional viel Wichtigkeit haben. 2016 und 2020 wurde Donald Trump unterschätzt, in den Zwischenwahlen 2022 andersherum die Demokraten. Bei aller Ungenauigkeit sind die Umfragen allerdings das Beste, was Analysten direkt vom Wähler erhalten und damit für die Demokraten keineswegs ignorierbar. Neben Wahlumfragen versuchen viele Modelle, den Ausgang der Präsidentschaftswahlen anhand eines Mix "harter" Makro-Faktoren zu bestimmen, z.B.  Arbeitslosigkeit und Aktienmarktentwicklung. Darin kommt Biden meist etwas besser weg, landet in der Regel Kopf-an-Kopf mit Donald Trump.

Die Sache mit dem Alter

Ein weiterer Grund, Biden fallen zu lassen, sind die Sorgen über seine Verfassung und sein Alter, womit wir auch wieder bei der TV-Debatte wären. Dieses Argument lässt sich zweierlei denken: Zum einen die Frage, ob Biden mit bald 82 Jahren ein effektiver Präsident sein könne. Zum anderen, ganz unabhängig von seiner Leistungsfähigkeit, die Frage, ob sein hohes Alter die Wähler abschrecken könnte. Der Diskurs bei den Demokraten dreht sich – bemerkenswert ehrlich – fast nur um die zweite Frage.

Tatsächlich scheint sich ein "Debatteneffekt" in den oben dargestellten Zustimmungswerten erkennen zu lassen: Nach der TV-Debatte riss Trumps Vorsprung im FiveThirtyEight-Poll von 0,2 auf 2 bis 2,5 Punkte auf (zuletzt verpasste ihm der Attentatsversuch und die erfolgreiche Parteikonferenz einen Hüpfer auf 3 Punkte Abstand). Wie viel das mit Sorgen über Bidens Alter zusammenhing und wie viel mit der ausgebrochenen Panik bei den Demokraten, ist schwer zu sagen. Klar ist allerdings, dass Bidens Alter bereits seit der Vorwahl 2019 ein Kritikpunkt und seitens der Republikaner ein Angriffspunkt ist. Im Juni 2020 sagten 36 Prozent der Wähler, dass Biden zu alt sei, um Präsident zu sein (NYT/Siena-Umfrage); nach der TV-Debatte Ende Juni 2024 waren es 74 Prozent. Allerdings lag der Wert bereits im Februar mit 73 Prozent genauso hoch, die Debatte hat zumindest in dieser Frage also kaum eine Auswirkung gehabt, sondern eher bestätigt, was viele Amerikaner ohnehin schon dachten. Das ändert aber nichts daran, dass Bidens Alter sowie Auftreten viele Wähler stören. In einer CNN/SSRS-Umfrage nannten 72 Prozent es einen Faktor, welcher gegen Biden spreche (nur 19 Prozent befanden es für egal). Übrigens stört Bidens Verfassung sie mehr als Trumps "Verbrechen und Gefährlichkeit für die Demokratie". In einer Umfrage von Data for Progress waren 53 Prozent mehr über Bidens Verfassung besorgt, 42 Prozent mehr über Trumps Gebaren.

Gut zu wissen: Die whathappened-Redaktion sah und sieht es nicht als ihre Aufgabe, die kognitive Leistungsfähigkeit von Joe Biden einzuschätzen, genauso wenig wie sie es mag, Politiker aus der Distanz zu psychologisieren. Nun ist der Zustand Bidens ohne Frage zum Politikum geworden. Diese Gut-zu-wissen-Sektion mag drum ausnahmsweise eine (vorsichtig zu bewertende) Einschätzung bieten:

Behauptungen über einen kognitiven Verfall Joe Bidens existieren seit 2019. Versprecher und Verwechslungen sowie ein teilweise unbeholfenes Auftreten wurden medial stark aufgegriffen, insbesondere von rechten Beobachtern, und fanden sich in viralen Social-Media-Clips, welche teilweise authentisch, teilweise aus dem Kontext gerissen waren (andersherum ging die Biden-Kampagne in einigen Fällen ähnlich mit Trump um). Grundsätzlich sind Versprecher und Verwechslungen kein hinreichendes Zeichen für kritischen kognitiven Verfall, nicht zuletzt, da Biden lebenslang unter einem Stotter leidet, was Versprecher und zögerliches Sprechen erklären kann. Oft blieb es zudem bei einfachen Fehlern, ohne, dass sich tiefere Verwirrung anzeigte: Als Biden etwa Ägyptens Abdel Fattah al-Sisi versehentlich den Präsidenten Mexikos nannte (ein weiterer viraler Moment), fuhr er damit fort, korrekt über den Nahen Osten und Sisis Rolle darin zu sprechen. Neben den auffälligen "ungünstigen" Momenten lieferte Biden regelmäßig solide Auftritte ab, prominent etwa bei der State of the Union-Rede (Video) im März 2024, bei welcher er sich spontane, lebendige Schlagabtäusche mit den Republikanern lieferte.

Insgesamt trat Biden jedoch auffällig wenig in unvorbereiteten Situationen in der Öffentlichkeit auf, etwa bei Pressekonferenzen oder Interviews. Er leistete davon bislang 164 ab, gegenüber 468 bei Trump zum selben Zeitpunkt und 570 bei Obama. Das erschwerte der Öffentlichkeit eine Einschätzung zu Biden. Ihr blieben damit (schwierig einzustufende) Insider-Behauptungen, vorteilhafte Reports von Bidens Ärzten und ein äußerst wenig vorteilhafter Report eines Sonderermittlers, welcher von Demokraten als politisch motiviert verschrien wurde.

Viele Amerikaner hatten damit ein recht limitiertes Bild davon, wie es um Biden steht. Die TV-Debatte am 27. Juni 2024 war für viele der erste Moment seit 2020, um Biden "in action" zu erleben und sich ein eigenes Bild zu machen. Der Präsident wirkte kränklich und überfordert; er war oft schwer zu verstehen und nicht immer kohärent. Der Kontrast zur State of the Union-Rede drei Monate früher (mitsamt ihrer spontanen Elemente) war markant. Unabhängig davon, ob das nun einen rasanten Verfall in kurzer Zeit bedeutet, es sich um einen besonders schlechten Tag handelte oder die Rede im März ein besonders guter Tag war: Es ist nachvollziehbar, dass die TV-Debatte Bedenken über die Verfassung des Präsidenten geweckt oder bestärkt hat.

Die Altlasten abwerfen

Biden fallen zu lassen, würde auch bedeuten, gewisse Ärgernisse der Amerikaner abzuschütteln. Im Mai bewerteten nur 23 Prozent der Gesamtbevölkerung die Wirtschaftslage der USA als gut oder exzellent, so eine Pew-Umfrage. Selbst, dass das den zweithöchsten Wert seit 2022 darstellt, ist kein gutes Signal. Und trotz ihres Absinkens blicken fast zwei Drittel der Amerikaner nervös auf die Inflation. Ein weiteres Megathema ist die illegale Migration, welche die Biden-Regierung erst auf den allerletzten Metern eingedämmt bekam. Zudem polarisierte sie mit ihrer Nahostpolitik, welche einigen Amerikanern zu freundlich gegenüber Israel war, anderen nicht freundlich genug. Ein Kandidat, der nicht Biden ist, würde diese Altlasten weniger mit sich herumtragen.

Die Down-Ballots retten

Zudem scheint Biden andere Kandidaten der Demokraten zu belasten. In jenen Bundesstaaten, wo Senatoren- oder Abgeordnetensitze kompetitiv sind, ist Biden meist unpopulärer als der jeweilige Kandidat. Der Präsident könnte seine Parteimitglieder nach unten ziehen und den Demokraten damit wichtige Kongresssitze kosten. Hält die Partei an Biden fest und verliert nicht nur das Weiße Haus, sondern auch den gesamten Kongress, wäre es ein politisches Desaster, welches die Partei in einen tiefen internen Konflikt stoßen könnte. Einige der "down-ballot"-Kandidaten (also für Senats- und Unterhaussitze) haben sich deswegen bereits offen gegen Biden ausgesprochen, auch wenn die Zahl noch klein bleibt.

Bereits zu sehr beschädigt

Ein letztes Argument für einen Biden-Abtritt: Seine eigene Partei könnte ihn zu sehr beschädigt haben. Die USA (und das Ausland) verfolgen seit bald einem Monat ein bemerkenswertes Polit- und Medienspektakel, in welchem die Demokraten mit sich selbst und mit ihrem Präsidenten ringen. Einige Parteikader verlangten öffentlich einen Abtritt, andere in angeblichen privaten Gesprächen, wieder andere hielten dagegen und der Präsident sowie sein Team wollten von Abtritt sowie nichts wissen. Die Medien lassen tagtäglich anonyme Insider, Berater und Wahlkampfmitarbeiter zu Wort kommen und überschlagen sich regelrecht mit Meinungsbeiträgen. Bidens Alter und Zustand wurden von den Demokraten auf eine Art und Weise in ein Licht gezogen, wie es die Republikaner in vier Jahren nicht vermocht hatten. Von "Selbstdemontage" zu sprechen, wäre noch verfrüht. Panik lässt sich aber kaum abstreiten. Und Joe Biden ist jetzt bereits verwundet. Hält die Partei an ihm fest, trägt er den Ballast mit sich, dass seine eigene Partei nicht mehr komplett hinter ihm zu stehen scheint. Bei unentschiedenen Wählern dürfte die Dysfunktionalität nicht positiv wahrgenommen werden.

Warum Biden bleiben sollte_
...oder: was drohen könnte, wenn er es nicht tut

(7 Minuten Lesezeit)

Joe Biden. Quelle: rawpixel

Ein Abtritt Bidens wäre für die Demokraten kein selbstverständlicher Vorteil. Den Präsidenten zu ersetzen, hätte Nachteile, welche sich grob in zwei Kategorien unterteilen lassen: aufgegebene Stärken und neue Risiken.

Den Amtsinhaberbonus bewahren

Die Amerikaner mögen zwar nicht mit allem in Bidens Regierungsarbeit zufrieden sein, doch der Präsident besitzt nichtsdestotrotz einen Amtsinhaberbonus. Zum einen, weil es für viele Wähler intuitiv sein dürfte, einen tolerablen Status quo beizubehalten. Zum anderen, weil Biden durchaus eine beachtliche Zahl an Erfolgen vorweisen kann. Die USA vermieden unter ihm eine ernstzunehmende Rezession, wiesen sogar eine positive Wirtschaftsdynamik auf. Gigantische Investitionsprojekte wie der CHIPS Act (Halbleiter) und der Inflation Reduction Act (grüne Technologien) zeigen bereits Wirkung. Der Arbeitsmarkt ist extrem straff. Ihre persönliche finanzielle Situation bewerten viele Amerikaner längst nicht so schlecht wie die Gesamtwirtschaft. Progressive freuen sich über seine Studienschuldenerlasse, Konservative über seine strenge Linie gegenüber China und Russland. Geben die Demokraten Biden auf, geben sie seine Leistungen als Wahlkampfargument auf. Nicht nur das: Es wäre für die Republikaner ein einfaches, den Wechsel so umzudeuten, dass er ein negatives Referendum über Bidens Regierungsarbeit darstelle. Nicht einmal seine eigene Partei sei mit ihm zufrieden – warum besagter Partei erneut das Weiße Haus überlassen?

Seine Pläne sind beliebt

Außerdem sind Bidens Beliebtheitswerte zwar nicht sonderlich gut, doch die seiner politischen Ziele durchaus. In einem "Blindtest", in welchem Befragten nicht gesagt wurde, ob ein Plan von Joe Biden oder Donald Trump stammte, schnitt Bidens Politik exzellent ab: 27 von 28 Plänen wurden von mehr Menschen befürwortet als abgelehnt, bei 24 bedeutete das über 50 Prozent Zustimmung. Dem gegenüber schafften es nur 5 von 28 Trump-Projekten oberhalb der 50 Prozent. Bidens politische Prioritäten sind beliebt, was Aufwärtspotenzial für die Demokraten versprechen könnte: Verstehen die Wähler, was Biden plant, lassen sich womöglich mehr von ihnen an den Wahlurnen überzeugen.

Niemand ist bekannter

Weiterhin ist Biden als Präsident ist immerhin bekannt. Das ist nicht trivial, denn ein unbekannter Kandidat kann durchaus schlechter abschneiden als ein kontroverser, doch bekannter Kandidat. Für drei von vier der oft gehandelten Ersatzkandidaten zeigt sich das in Umfragen: In einer CNN-Befragung erklärte nur die Hälfte der Amerikaner, eine Meinung über Kalifornien-Gouverneur Gavin Newsom oder Verkehrsminister Pete Buttigieg zu haben; bei Michigan-Gouverneurin Gretchen Whitmer war es gar nur ein Drittel (zum Großteil, weil sie die Politiker gar nicht kannten). In Umfragen schneiden alle drei im Zweikampf gegen Donald Trump meist gleich gut oder etwas schlechter als Biden ab. Besagte CNN-Umfrage ist dabei noch eine der vorteilhaftesten für die "Alternativen": Biden liegt darin mit 43 zu 49 Prozent hinter Trump, Gavin Newsom kommt auf 43 Prozent zu 48 Prozent, Pete Buttigieg auf 43 zu 47 Prozent und Gretchen Whitmer auf 42 zu 47 Prozent.

Die stärkste Alternative für Biden bleibt Vizepräsidentin Kamala Harris. Sie gelangt im Zweikampf der CNN-Umfrage auf 45 zu 47 Prozent und zieht auch in anderen Umfragen oft mit Biden gleich oder an ihm vorbei. Das ist auch ein Beweis für die Hypothese, dass ein unbeliebter, bekannter Kandidat manchmal besser abschneidet als ein unbekannter, "unbefleckter" Kandidat: Harris ist mit einer Nettozustimmung von minus 20 Punkten eine der unbeliebtesten Politikerinnen in den USA, doch hätte anscheinend trotzdem die besten Chancen gegen Trump.

Nun ist ein Blick auf die reinen Zustimmungswerte nicht ganz hilfreich, da ja nur eine recht kleine Gruppe von Wählern am Ende über das Ergebnis entscheidet. Wenn wir in den Umfragen nur auf jene Wähler schauen, welche noch unentschieden sind – 31 Prozent aller registrierten Wähler –, schneiden die Biden-Alternativen deutlich stärker ab, wie unsere Grafik unten zeigt. Harris ist auch hier am stärksten. Das unterstützt ein Argument für einen Austausch ungeachtet des eingebüßten Amtsinhaber- und Bekanntheitsbonuses.

Der Kamala-Harris-Faktor

Kamala Harris ist ein gutes Stichwort. Die Vizepräsidentin war nie sonderlich beliebt, im Gegenteil, sie geriet zum politischen Meme für Unbeliebtheit. Republikaner verachteten sie, linke Demokraten hielten wenig von der Staatsanwältin mit strenger Reputation und unabhängige Wähler fanden wenige greifbare Erfolge als Vizepräsidentin (dass Biden ihr als Dossier die äußerst komplizierte Immigrationseindämmung übertrug, half nicht). Selbst ihre Auswahl zur Vizepräsidentin kam mutmaßlich nur zustande, weil Biden mit einer Frau sowie der ersten schwarzen und indischstämmigen Vizekandidatin ein Zeichen an den linken Flügel seiner Partei senden wollte.

Dass sie nun inmitten der Spekulationen über einen Biden-Abtritt an Aufwind erfährt, ist eine bemerkenswerte Wendung. Es ergibt allerdings Sinn. Kamala Harris ist unter den Alternativen am besten bekannt, hat (wohl auch deswegen) die besten Umfragenwerte und könnte ein Stückchen Amtsinhaberbonus mitnehmen. Zudem könnte sie die mindestens 91 Millionen USD, welche die Biden-Kampagne eingesammelt hat, behalten. Bei den Details sind sich Experten zu Wahlkampfrecht nicht einig, doch der Tenor ist, dass Harris als Präsidentschaftskandidatin – oder als Vize unter einem anderen Kandidaten – problemlos Zugriff auf das Geld besäße. Zumindest, insofern Biden bereits als Kandidat bestätigt wurde, wie einige Experten anmerken (bislang ist er es nicht, die offizielle Ernennung dürfte in einigen Tagen stattfinden). Ist Harris nicht auf dem "Ticket" für die Präsidentschaftswahl, wäre die Lage komplizierter. Das Geld müsste vermutlich an die Demokratische Partei (DNC) – und nicht an die neue Wahlkampagne – fließen, was logistisch aufwendiger wäre und bestimmte finanzielle Vorteile aufgeben würde, etwa vergünstige TV-Werbeslots für Kampagnen.

Harris' relative Stärke ist für die Demokraten damit ein gutes Zeichen, denn an ihr würde kaum ein Weg vorbei führen. Das liegt nicht nur an der Übertragbarkeit der Bidenschen Kriegskasse. Erstens ist Harris Vizepräsidenten, was ihr ein natürliches, wenn auch keineswegs in Stein gemeißeltes Zuschlagsrecht auf die Kandidatur sichert. Zweitens wäre es insbesondere dem linken Parteiflügel schwierig vermittelbar, warum die erste schwarze und indischstämmige Präsidentschaftskandidatin fallen gelassen wurde.

Die Gefahr der Selbstzerstörung

Bei der Frage nach dem Nachfolger kommt das Risiko eines Biden-Abtritts zutage. Die Demokraten haben keinerlei Interesse, zerstritten in die Wahl zu gehen. Dysfunktionalität dürfte vom Wähler kaum belohnt werden. Vorwahlen (primaries) finden nicht umsonst im Winter und Frühjahr statt: Der Partei soll rund ein halbes Jahr bleiben, um vereint mit klarem Kandidaten und klarem Messaging in den Wahlkampf zu gehen. Heute lässt sich die Anspannung in der Demokratischen Partei kaum wegdiskutieren, doch bräche nach einem Biden-Abtritt ein offener Kampf um die Kandidatur aus, wäre das einige Wochen vor der Wahl hochriskant.

Gut zu wissen: 1980 scheint die späte innerparteiliche Herausforderung von Edward Kennedy gegen Präsident Jimmy Carter dessen ohnehin schwierigem Wiederwahlversuch das Genick gebrochen zu haben. Politico titelte in einem Artikel aus 2019: "Der demütigende Händedruck und der Beinahe-Faustkampf, der die Demokratische Partei zerbrach".

Im schlimmsten Fall würde ein Flügelkampf herrschen, in welchem linke und moderate Kandidaten sich gegenseitig beharken und der eventuelle Sieger geschwächt herausgeht. Anstelle eines halben Jahrs blieben nur wenige Wochen, um Einigkeit herzustellen und zu präsentieren. Dem gegenüber stünde eine auffällig disziplinierte Republikanische Partei, in welcher die Trumpisten den Flügelkampf eindeutig für sich gewonnen haben. Sie würde die durchaus nachvollziehbare Frage stellen, warum Joe Biden nicht umgehend als Präsident zurücktreten sollte (und nicht erst planmäßig im Januar 2025), wenn seine Partei ihn doch selbst für eine Kandidatur als zu gebrechlich einstuft; und sie würde die gesamte "Meuterei" als Beweis interpretieren, dass die Demokratische Partei die Bürger jahrelang über den Zustand Bidens belogen habe, bis selbst sie die Scharade nicht mehr aufrecht erhalten konnte. Beide Narrative könnten sich verfangen und die Demokraten zusätzlich unter Druck setzen.

Bekannte Leichen, unbekannte Leichen

Ein weiteres Risiko ist, dass nicht klar ist, wen man sich als Kandidaten hereingeholt hat. Erst das sehr gut bekannte Gegenbeispiel: Joe Biden ist zutiefst durchseziert. Er ist seit Jahrzehnten in der Tagespolitik und wurde in den letzten 5 Jahren auf unterschiedlichste Arten und Weisen angegriffen, von welchen sich kaum eine so recht verfing: Weder die Versuche, ihm prochinesische oder ukrainische Korruption vorzuwerfen, noch ihn in Verbindung mit den Rechtssorgen und dem schwierigen Lebenswandel seines Sohnes Hunter in Verbindung zu bringen oder ihm einen unangenehmen Umgang mit Kindern zu unterstellen. Nur das Narrativ, dass er mutmaßlich senil, ja dement, sei, hat es außerhalb eines rechten und konspirativen Beobachterspektrums geschafft. Wäre es den Demokraten gelungen, das Altersargument zu entkräften, hätten die Republikaner wenig effektive Charakterkritik gegen Biden behalten.

Anders bei einem neuen Kandidaten. Welche "Leichen" er oder sie im Keller hat, welche Angriffswinkel er oder sie zulässt, ist im Vorhinein unmöglich zu sagen. Das schafft Abwärtsrisiko für die Demokraten. Als Beispiel mag Annalena Baerbock im deutschen Wahlkampf 2021 dienen: Die Grünen-Spitzenkandidatin stolperte über eine Plagiatsaffäre. Selbst ein solch harmloser Fall – kaum ein großes politisches Versagen – ändert die mediale Dynamik, prägt die Charakterwahrnehmung in der Öffentlichkeit und bietet den politischen Gegnern gangbare Angriffe. Vor allem, wenn die betroffene Seite so wirkt, als verstricke sie sich in Halbwahrheiten oder Vertuschungsversuchen.

Gut zu wissen: Die Republikaner arbeiteten sich bei Hunter Biden an mutmaßlicher, nie bewiesener Korruption ab, doch Hunters tatsächliche Verurteilung war für sie nicht so recht anfassbar: Es ging dabei um Verstöße gegen Waffengesetze, welche die Republikaner und viele ihrer Wähler eigentlich selbst nicht sonderlich mögen. Auch, dass Biden offenbar einige Geheimdokumente aus seiner Zeit als Vizepräsident in seiner Privatwohnung aufbewahrte, war kein guter Angriffswinkel: Trump scheint Tausende Dokumente mitgenommen zu haben und kooperierte anders als Biden nicht bei der Herausgabe mit den Behörden.

Ein kleines Fazit_

(2,5 Minuten Lesezeit)

Kamala Harris. Quelle: rawpixel

Krönung oder Wettbewerb?

Sollte es zu einem Kandidatenwechsel kommen, wie würde dieser aussehen? Nur Biden selbst kann ihn einleiten. Er hat die Vorwahlen und damit Delegierte gewonnen. Er müsste sie freistellen. Im Grunde gibt es dann zwei Pfade, welche die New York Times passenderweise coronation und contest nennt, Krönung und Wettbewerb. Bei einer "Krönung" würde Biden seine Unterstützung hinter Kamala Harris werfen und seine Delegierten zu selbigem aufrufen. Bei einem "Wettbewerb" würde die DNC eine offene Vorwahl ansetzen. Eine "Krönung" könnte bei vielen Demokraten unbeliebt sein, da sie vom Parteiestablishment eine Kandidatin vorgesetzt bekämen – nachdem gerade der linke Flügel sich bereits mit Biden ähnlich behandelt gefühlt hatte. Das könnte zu offenem Zwist und Selbstzerstörung führen. Genauso allerdings ein "Wettbewerb", wie wir oben skizziert haben. Was der bessere Pfad ist, ist bei den Demokraten umstritten. Der einflussreiche Abgeordnete Jim Clyburn, welcher Biden 2020 die Kandidatur in den internen Vorwahlen gerettet hatte, sagte jüngst, dass die Partei im Falle eines Biden-Abtritts eine "Mini-Primary" abhalten sollte. Das sei "fair für alle". Ähnlich äußert sich der bekannte linksliberale Journalist Ezra Klein, welcher eine Krönung "Wahnsinn" nennt. Andere Demokraten plädieren hingegen dafür, sich unkompliziert hinter Kamala Harris zu vereinen.

Was am Ende bleibt

Welcher Ansatz ist also besser? Schwer zu sagen. Eine "Krönung" wäre logistisch einfacher, stringenter und könnte Einigkeit signalisieren; ein "Wettbewerb" hätte mehr Legitimation, könnte einen stärkeren Kandidaten hervorbringen und womöglich einige Wochen lang die Aufmerksamkeit sichern, was der Trump-Kampagne den Wind aus den Segeln nähme. Riskant wären beide Ansätze, da es ganz maßgeblich darauf ankommt, wie die Partei damit umgeht. Die "Krönung" hat eventuell weniger Risiko, innerparteiliche Streits aufzubrechen, doch verliert die (undemokratisch ausgewählte) Kandidatin Harris gegen Trump, ist ein schwerer Flügelkampf fast vorprogrammiert.

Zuerst ist die Frage allerdings, ob Biden überhaupt abtritt. Der Anlass für diesen Explainer war die auffällig intensive und konkrete Berichterstattung in den US-Medien in den vergangenen Tagen. Dass der Druck auf Biden überhaupt so lange anhält, erhöht aus Sicht der whathappened-Redaktion die Wahrscheinlichkeit für einen Abtritt. Der Präsident selbst lässt davon bisher jedoch nichts erkennen: Er und sein Team kommunizieren weiterhin ausdrücklich, an der Kandidatur festhalten zu wollen. Die Umfragen und der interne Druck der nächsten Tage dürften entscheiden, ob sich das noch ändert.

Sicherlich zur Enttäuschung vieler Leser kann die whathappened-Redaktion keine klare Empfehlung bieten, ob es für die Demokraten besser wäre, an Biden festzuhalten oder nicht. Stünde fest, dass "Krönung" oder "Wettbewerb" konstruktiv verlaufen, wäre ein Wechsel vermutlich anzuraten. Stünde fest, dass sie destruktiv verlaufen, sollte die Partei lieber am Amtsinhaber festhalten. Da nichts von beidem feststeht, fehlt ein zentrales Stück an Information.

Für Anhänger der Demokraten (oder Gegner von Donald Trump) lohnt es sich, ein wenig Perspektive zu behalten. Die Partei geht durch eine Unruhephase und die Trump-Kampagne erlebt rund um den gelungenen Parteitag und den Schreckmoment um den Anschlag auf ihren Kandidaten eine Hochphase. Doch Stand jetzt bleibt das Rennen um die Präsidentschaft im November völlig offen. Trump und Biden sind in den meisten Wahlprognosemodellen (wenn auch nicht in den reinen Umfragen) Kopf-an-Kopf oder innerhalb der statistischen Fehlerspanne. Das ist nicht, was sich die Demokraten gewünscht hatten, aber auch keine beschlossene Katastrophe. Viele Parteianhänger und Parteigranden möchten sich allerdings nicht mit einer 50/50-Chance gegen Donald Trump zufriedengeben. Mal schauen, ob sie ihren Präsidenten überzeugt bekommen.