Eine Firma riskiert ein Jahrhundert an Reputation.
17.03.2024
Krise | Gründe | Zukunft
(13 Minuten Lesezeit)
Blitzzusammenfassung_(in 30 Sekunden)
- Boeing erlebt derzeit eine beeindruckende Reihe an peinlichen oder gefährlichen Vorfällen und Produktionsproblemen, insbesondere in der 737 MAX-Reihe.
- Nicht nur anekdotische Berichte und Whistleblower weisen auf systemische Probleme hin, auch Audits von Regulatoren und Expertenpanels kritisieren Prozesse und Qualitätsmanagement.
- Die Gründe für die Krise beim Traditionshersteller lassen sich womöglich bis zu einer Fusion im Jahr 1997 zurückverfolgen.
- Damals veränderte sich die Unternehmenskultur offenbar von einem "Produktfokus" zu einem "Effizienzfokus".
- Die Krise schwächt Boeings Marktposition gegenüber dem ewigen Rivalen Airbus, womöglich auf Jahrzehnte.
- Für Passagiere bedeutet es wohl im Großen und Ganzen wenig: Sie sollten nicht hoffen, dass Boeing scheitert; und Fliegen bleibt sehr sicher.
Boeing in der Krise_
(5 Minuten Lesezeit)
Keine glückliche Serie bei Boeing. Der amerikanische Flugzeughersteller wurde binnen 11 Tagen mit 7 öffentlichkeitswirksamen Vorfällen an seinen Flugzeugen in Verbindung gebracht: In San Francisco verliert eine Boeing-Maschine kurz nach Start einen Reifen; ein Flug aus Sydney musste aufgrund eines Lecks in der Hydraulik umkehren; gleich bei zwei Flügen in den USA fing ein Triebwerk Feuer; in Texas überschoss eine Boeing die Landebahn und kam auf einer Grasfläche zum Stehen; in Kalifornien musste eine Maschine nach einem "technischen Vorfall" notlanden; und zuletzt – Stand 17. März – verlor ein Flugzeug allem Anschein nach mitten im Flug ein Außenpanel.
Für besonders viel Aufsehen sorgte ein dramatischer, kurzer Sinkflug bei einem Boeing Dreamliner zwischen Sydney und Auckland: Eine Flugbegleiterin scheint versehentlich einen Schalter betätigt zu haben, welcher den Sitz des Piloten in die Flugzeuginstrumente schob. Boeing ruft nun die Airlines dazu auf, die Sitze zu inspizieren.
Eine solche Serie wäre bei jeder Firma ein tiefer Schock. Bei Boeing reiht sie sich in eine jahrelange Strähne ähnlicher und schlimmerer Vorfälle ein, etwa den ebenfalls sehr öffentlichkeitswirksamen Verlust eines Rumpfteils im Januar bei einem Alaska-Airlines-Flug, was die Passagiere plötzlich einem großen Loch im Flugzeug aussetzte. Als wäre all das nicht genug, war da noch der mutmaßliche Suizid des Whistleblowers John Barnett, welcher zuvor erklärt haben soll, dass er keinen Suizid plane, aber sich verfolgt fühle.
Gut zu wissen: Boeing-Mitarbeiter finden bei der New York Times inzwischen einen großen Aufruf, sich zu melden und von ihrer Erfahrung zu berichten. Selbstverständlich mit Hinweis auf sichere, anonyme Mitteilungskanäle. Ähnlich verfahren die Journalisten auch bei politisch sensitiven Sachverhalten oder mit Quellen in Krisengebieten.
If it's Boeing, I'm not going
Zuerst einmal: Nicht alle der Vorfälle oben müssen unbedingt Boeings Schuld sein. Auffällig viele sind bei United Airlines, einer von vier großen US-Luftfahrtgesellschaften, geschehen. Womöglich spielen also Wartungsfehler seitens der Airlines hinein.
Bei einigen Fällen ist es aber erwiesen oder sehr naheliegend, dass es sich um Probleme bei Boeing handelt. Etwa der Rumpfteil-Vorfall, welcher durch einen abgeflogenen Türstopfen der Boeing 737 Max 9 und vier fehlende Bolzen ausgelöst worden war. Eine sechswöchige Untersuchung der US-Luftfahrtbehörde FAA hat "Dutzende" Probleme in der Qualitätskontrolle bei Boeing und dem 737-MAX-Zulieferer Spirit AeroSystems festgestellt. Das reicht bis ins Skurrile: Mechaniker setzten statt Schmiermittel mitunter Geschirrspülmittel ein und nutzten eine Hotel-Keycard, um eine Türdichtung zu überprüfen. Insgesamt habe Boeing nur 56 von 89 Audits zufriedenstellend abgeschlossen, Spirit nur 8 von 15. In 97 Fällen habe "noncompliance" stattgefunden, es wurde also nicht mit den Aufsehern kooperiert.
Gut zu wissen: Spirit wurde 2005 von Boeing abgespalten. Es ist nicht mit der Luftfahrtgesellschaft Spirit Airlines zu verwechseln.
Für Boeing werden ungute Erinnerungen an 2018 und 2019 wach. Damals stürzten innerhalb von weniger als fünf Monaten zwei 737-Max-8-Jets ab, wobei 346 Menschen in Äthiopien und Indonesien getötet wurden. Ursache war eine Software namens Maneuvering Characteristics Augmentation System (MCAS), welche das Flugzeug eigentlich stabilisieren und Designunterschiede zu früheren 737-Generationen kompensieren sollte. Bei beiden Flügen funktionierte MCAS fehlerhaft. Boeing hatte das System allerdings vor Piloten verheimlicht und in Bedienungsanleitungen weggelassen – vermutlich, um die 737 MAX-Reihe weniger trainingsintensiv und somit attraktiver darzustellen – und auch den Regulatoren nicht akkurat erklärt, wie stark MCAS in den Flug eingreifen könnte. Die Piloten der Unfallflieger kämpften praktisch gegen das eigene Flugzeug an; arbeiteten mit einer ihnen unbekannten Variable.
Nach einer Ermittlung räumte auch Boeing ein, dass MCAS in den Unfällen eine Rolle gespielt hatte. Es einigte sich 2021 mit dem US-Justizministerium auf eine Zahlung von 2,5 Milliarden US und gestand, dass zwei Mitarbeiter die Regulatoren angelogen hatten. Strafrechtliche Verfolgung vermied es, indem es praktisch in "Bewährung" ging: Drei Jahre lang müsse Boeing erneuten Betrug seiner Mitarbeiter gegen Regulatoren sofort anzeigen, sein Compliance-Programm verbessern und vollumfänglich mit den Ermittlern kooperieren. Es war ein halbwegs glimpflicher Ausgang für Boeing, welches nicht einmal einen Sonderprüfer zur Seite gestellt bekam.
Das schwarze Schaf
Die 737 Max gerät derzeit zu so etwas wie dem schwarzen Schaf der Boeing-Familie. Gedacht als Nachfolgerin des Kassenschlagers 737, ist sie inzwischen in auffällig viele der Vorfälle involviert. Nach den Katastrophen 2018/19 wurde sie von der US-Luftaufsicht FAA zwei Jahre lang auf den Boden verbannt. Neben Unfällen erleben die 737 Max viele Produktionsprobleme: Sei es bei der Montage von Halterungen, welche den hinteren Teil des Rumpfes mit dem Seitenleitwerk verbinden; bei unsachgemäß gebohrten Löchern in einer Trennwand; oder bei einer fehlenden Mutter an einer Schraube der Rudersteuerung.
Anekdotische Berichte darüber, wie Boeings Kostenfokus mit der Qualitätskontrolle kollidiert, gibt es zuhauf. So wirkte die Firma 2016 auf die Regulatoren ein, Brandbekämpfungsanlagen für neue Triebwerke der 737 MAX weniger streng testen zu müssen, so die Seattle Times mit Bezug auf Insider. Ingenieure beschwerten sich beim Management, welches sich anfangs versperrte und erst nach Druck mehrerer leitender Ingenieure nachgab. Der "Rädelsführer" wurde einige Tage später aus dem 737-MAX-Programm abgezogen. Und beim jüngsten Alaska-Airlines-Vorfall kann Boeing kurzerhand keine Dokumentation mehr dafür finden, wer das abgefallene Rumpfteil überhaupt angebracht hatte. Sicherheitskamera-Aufnahmen von den Arbeiten waren überschrieben worden.
Einige Boeing-Arbeiter melden sich gleich namentlich mit ihren Sorgen: Ed Pierson, ein früherer Manager, erklärte jüngst in einem Interview, dass er 2023 (vor dem Alaska-Airlines-Vorfall) seinen geboardeten Flug in letzter Minute verließ, als ihm klar wurde, dass er sich in einer 737 MAX befand. Er würde auf keinen Fall mit einem MAX-Modell fliegen, erklärt Pierson. Als er zwischen 2008 und 2018 in einer 737-Fabrik arbeitete, habe er überarbeitete Mitarbeiter, mangelnde Ersatzteile, abgekürzte Qualitätskontrollen und eine Geschäftsführung, welche all das ignoriert habe, erlebt.
Nicht nur mit der 737 MAX gibt es Probleme. Ein von der FAA einberufenes Expertenpanel kritisierte in einem Bericht 2024 ganz allgemein ineffektive Prozesse, einen Zusammenbruch in der Kommunikation zwischen Topmanagement und Mitarbeitern, und viel Irritation über die firmeninternen Sicherheits- und Qualitätsmanagementstandards. Zwar existiert seit den Katastrophen 2018/19 ein internes "Speak Up"-Programm, mit welchem Mitarbeiter Probleme an die Führung kommunizieren sollen, doch die Mitarbeiter vertrauen der versprochenen Anonymität nicht.
Es ist also nicht so, dass die 737 Max einfach eine Anomalie sei, ein Ausreißer in einer ansonsten fehlerfrei funktionierenden Firma. Etwas scheint bei Boeing fundamental nicht mehr in Ordnung zu sein. Die meisten Boeing-Beobachter führen den Irrflug auf einen Moment in den 1990ern zurück.
Die Gründe_
(6 Minuten Lesezeit)

Boeing am Gipfel
Boeing, offiziell The Boeing Company, existiert bereits seit 1916. Ihr Gründer William E. Boeing, Sohn deutscher Auswanderer ("Böing"), war eigentlich Holzunternehmer, doch verwandelte seine Faszination für die seinerzeit noch recht jungen Flugzeuge in ein schnell wachsendes Unternehmen. Das erste Produkt war ein Wasserflugzeug, welches von der US Navy bestellt wurde. Später stieg die Firma ins Postgeschäft ein und leistete den ersten internationalen Brieftransport per Flug. In einer Phase rasanter Konsolidierung schluckte Boeing zahlreiche Rivalen und wuchs zum wichtigsten Player der USA heran, welcher als "United Aircraft and Transport Corporation" (UATC) sowohl Flugzeugbau als auch Lufttransport anbot. Zumindest bis 1934, als die Regierung die zwei Sparten trennte und UATC spaltete. Boeing ging als Flugzeugbauer hervor, United – die noch bis heute operierende Airline – als Transporteur.
Über die Jahre wurde Boeing nicht nur zu einem der weltweit wichtigsten Flugzeugbauer, sondern auch zu einem der größten Unternehmen der USA. Es baute die Rakete, welche Menschen erstmals zum Mond brachte und entwickelte mit der 747 ab 1970 den wohl bedeutsamsten Passagierjet in der Luftfahrtgeschichte. "If it’s not Boeing, I’m not going", so ein Spruch unter Piloten, welcher sich heute noch auf Boeing-Merchandise kaufen lässt.
Ein völliges Monopol besaß Boeing nie, doch es dominierte seinen Markt. Bis auf der anderen Seite des Atlantiks ein Rivale heranwuchs, welcher Boeing zum Zweikampf herausfordern würde: Airbus. Der europäische Flugzeugbauer existiert in seiner frühsten Form bereits seit 1970. Es sollte einige Jahre dauern, bis er sich im Markt bemerkbar machen würde, doch bis in den 90er-Jahren war Airbus zu einem ernsthaften Rivalen herangewachsen, welcher in Boeings Marktanteile fraß – und dank niedrigerer Kosten schneller wuchs. Also griff Boeing zur Brechstange.
Gut zu wissen: Seit wann der europäische Flugzeugbauer Airbus in "aktueller" Form existiert, ist ein wenig schwierig zu sagen. Airbus und seine Sparten gab es über die Jahrzehnte in knapp einem Dutzend Gesellschaften. Die heutige Airbus SE existiert seit 2017.
Von Ingenieuren zu Buchhaltern
Im Jahr 1997 entschied sich Boeing zur Fusion mit einem seiner wichtigsten heimischen Rivalen: McDonnell Douglas. Dieser war in den 90ern zunehmend in kommerzielle Schwierigkeiten geraten, gerade im zivilen Flugzeuggeschäft. Die Fusion war keine ebenbürtige, und McDonnell verschwand als Firma und Marke vollständig. Für Boeing war die damals zehntgrößte Transaktion in der US-Geschichte ein Weg, die eigene Marktstellung zu behaupten.
Es könnte diese Fusion gewesen sein, welche Boeing auf den falschen Pfad brachte. Denn obwohl McDonnell Douglas mit seiner Marke und seinem Organigramm verschwand, dominierte es plötzlich im Management – als habe der Kleinere den Größeren geschluckt. Harry Stonecipher, CEO von McDonnell Douglas, wurde mit der Fusion zum Präsidenten und COO von Boeing und ab 2003 dann auch offiziell dessen CEO. Es war ein Wendepunkt für die Firmenkultur bei Boeing: Diese galt vorher als ingenieurs- und produktzentrisch, angeführt von gelernten Ingenieuren, doch mit McDonnell Douglas wurde eine deutlich betriebswirtschaftlichere Kultur hineingebracht – Buchhalter, MBAs und nicht mehr Ingenieure steuerten die Firma nunmehr.
Das geschah durchaus bewusst, denn der Flugzeugmarkt ging durch eine Phase hohen Kostendrucks und wachsenden Wettbewerbs. Boeing musste Kosten sparen, so der Eindruck. Aktivistische Investoren machten Druck auf die Führung, den Aktienpreis zu verbessern. Das neue Managementteam verstand es, auf Profit zu optimieren, und schaffte das auch erfolgreich. In Harry Stoneciphers Worten: "Wenn Leute sagen, dass ich die Kultur bei Boeing verändert habe, dann war das die Absicht, damit es wie ein Business und nicht wie eine großartige Ingenieursfirma betrieben wurde."
Gut zu wissen: Stonecipher nannte die Ingenieure bei Boeing außerdem "arrogant" und erklärte mit Bezug auf Unzufriedenheit unter Mitarbeitern: "Ich mache ihnen nicht die Hölle heiß; ich sage nur die Wahrheit und sie denken, es sei die Hölle."
Kein Markt wie jeder andere
Der Rest der Story ist recht offensichtlich, auch wenn gerade dieser Kurzschluss etwas gefährlich sein kann. "Unternehmenskultur" ist das betriebswirtschaftliche Pendant zu oftmals leeren politischen Begriffen wie "strukturell" oder, nun ja, "Kultur". Jede For-Profit-Firma definiert sich letztlich über Profit oder das Versprechen von Profit und jede börsennotierte Firma muss Investoren antworten; doch nicht jede börsennotierte For-Profit-Firma liefert schlechte Produkte ab. Immerhin sollte gerade der Profitgedanke in einem Markt, welcher auch nur halbwegs funktioniert und auf Wiederholungskunden basiert, zu Anreizen für gute Produkte führen. Andernfalls wandern die Kunden ab.
Es lässt sich allerdings argumentieren, dass der Flugzeugmarkt kein ganz normaler Markt ist. Erstens, seine Struktur: Im Grunde existieren nur zwei Anbieter und obwohl Firmen zwischen ihnen wechseln können, sind die "Wechselkosten" erheblich: Piloten, Wartungsteams, Kabinenpersonal und Administration der Airlines müssen umtrainiert werden, neue Simulatoren und Ersatzteile beschafft werden, neue Zuliefererbeziehungen aufgebaut werden. Zudem kann ein neuer Großkunde schnell die aktuellen Produktionskapazitäten eines Herstellers sprengen, was lange Lieferwartezeiten bedeutet, gut und gerne mehrere Jahre. Kunden können einem Produkt mit Mängeln also nicht so einfach entkommen.
Zweitens, das Produkt im Flugzeugmarkt ist hochkomplex. Die 737 Max scheint über 500.000 einzelne Komponenten zu besitzen, welche zu großem Teil von über 600 Zulieferern und vermutlich Tausenden Subzulieferern produziert werden. Ein solch komplexes Netz mit hoher Qualitätskontrolle in Einklang zu bringen, benötigt hohen Aufwand, hohen Geldeinsatz und vermutlich reichlich Begeisterung für Qualität. Eine "Effizienzkultur" anstelle einer "Perfektionismuskultur" könnte hier tatsächlich im Weg stehen und zu Qualitätsproblemen führen. Teilt die Geschäftsführung dann auch noch die Einschätzung nicht, was ein gutes und was ein schlechtes Produkt ist – oder hält sie es aufgrund der oben genannten Wechselbarrieren für irrelevant, was für ein Produkt abgeliefert wird – dann könnte das Boeings Probleme durchaus erklären.
4.500 Kilometer Distanz
Weitere Gründe sind die hohe Nachfrage nach Flugzeugen, Entlassungen während Covid-19 und die zahlreichen Führungswechsel bei Boeing. Erstere bedeutet, dass es für die Hersteller einen großen Markt an Neuaufträgen anzuzapfen gibt, von welchem sie umso mehr abgreifen, je schneller sie produzieren können. Zweiteres bezieht sich auf die rund 16.000 Entlassungen im Jahr 2020, was die Expertise im Unternehmen getroffen haben könnte. Drittes auf die 5 CEOs seit 1996, von welchen nur einer mehr als 7 Jahre im Amt blieb. Viele Wechsel riskieren verwirrende Prozesse, Standards und Prioritäten für Mitarbeiter; und erschweren es der Geschäftsführung, Kontroll- und Kommunikationswege zur Fabrikhalle zu etablieren.
Wenn wir schon bei Kommunikation sind: Auf fast symbolische Art und Weise wurde der Prioritätenwandel Boeings in den späten 1990ern auch geografisch verankert. Die Firma saß seit 1916 in Seattle, wo sich der Großteil ihrer Mitarbeiter und Ingenieure bis heute befindet. 2001 verlagerte sie allerdings ihr Hauptquartier samt Topmanagement nach Chicago, hauptsächlich aus Steuergründen. 2022 erfolgte dann der nächste Umzug nach Arlington, Virginia, um näher an Großkunden aus der Regierung zu sein. Wenn im jüngsten Bericht des FAA-Expertenpanels von "Kommunikationsproblemen" und fehlender Kontrolle die Rede ist, so spielen die 4.500 Kilometer zwischen Fabrikhalle und Führung darin eine große Rolle.
Gut zu wissen: Boeing begleitete seinen Umzug aus Seattle mit einer PR-Aktion: Eine 737 mit dem Topmanagement an Bord startete mit unbekanntem Ziel: Entweder Denver, Dallas oder Chicago. Als sie in Chicago landete, war klar, dass die Stadt das Rennen für das neue Firmenhauptquartier gemacht hatte.
Was bevor steht_
(2,5 Minuten Lesezeit)

Im Auge des Sturms
Für Boeing steht jetzt erst einmal die Schadenskontrolle im Vordergrund. Die Firma kann nur hoffen, dass die furchtbare Serie aus teils gefährlichen, teils lediglich peinlichen Vorfällen endet und sie beginnen kann, die Deutungshoheit zurückzugewinnen. Das wird nicht einfach. Mehrere Passagiere klagen gegen Boeing, im Fall des Alaska-Airlines-Fluges auf ganze 1 Milliarde USD. Im selben Fall ermittelt das US-Justizministerium gegen Boeing. Die Firma könnte die Einigung gebrochen haben, mit welcher sie sich nach den zwei 737-MAX-Abstürzen 2018 und 2019 Straffreiheit gesichert hatte. Und selbst der US-Kongress befasst sich mit der Krise beim heimischen Traditionsunternehmen. Sie wird wohl nicht so schnell aus der öffentlichen Wahrnehmung schwinden.
Dann wären da ganz direkte Konsequenzen. Die FAA hat Boeing ungewöhnlicherweise ein Produktionslimit auferlegt, bis die Firma nachweislich die Probleme des Alaska-Airlines-Vorfalls gelöst hat. Aufgrund der schwachen Audit-Resultate will die Behörde ihre Präsenz in den Fabriken von Boeing und Spirit vertiefen. FAA-Chef Mike Whitaker erklärt, dass es kein "Zurück zum Business-as-Usual" für Boeing geben werde. Für die FAA geht es dabei auch um ihre eigene Reputation, denn einige Beobachter führen das Argument an, dass mangelnde Regulation die "Fehlerkultur" bei Boeing überhaupt erst ermöglicht habe.
Dass es bei Boeing nicht mehr so schnell zum Status quo ante zurückgeht, stimmt wohl unabhängig davon, was die Regulatoren jetzt unternehmen. Airbus ist seit 2019 erstmals der größte Flugzeugbauer der Welt und profitiert von den Problemen bei Boeing. Im lukrativen Schmalrumpf-Segment (ein Kabinengang und bis zu sechs Economy-Sitze pro Reihe) besitzen die Europäer bereits 62 Prozent Marktanteil. Diesen Trend umzukehren, wird für die Amerikaner schwierig werden. Die vielen Produktionsprobleme verzögern das neue Flugzeugmodell 777X, welches wohl erst 2025, also mit 6 Jahren Verspätung, ausgeliefert werden wird. Seit 2018 hat Boeing keinen Jahresprofit mehr abgeliefert. Damit gerät auch der Aktienpreis unter Druck. In den letzten fünf Jahren hat er sich halbiert, während der US-Leitindex S&P 500 um 83 Prozent und Rivale Airbus um 42 Prozent auf neue Rekordhöhen zugelegt haben. Boeings Profit- und Aktionärsfokus scheint zum Eigentor geraten zu sein.
Der Firma ist die Lage bewusst. Der "Ingenieure statt Buchhalter"-Tenor ist kein neuer. Aufgabe des 2020 einbestellten CEO Dave Calhoun ist es, Boeing zu seinen alten Wurzeln zurückzuführen. Die aktuelle Krisenwelle ist nicht unbedingt der Beweis, dass ihm das misslingt – nur, dass noch sehr viel Arbeit bevorsteht.
Keine Angst vor Flugzeugen
Wie können Passagiere über die Lage denken? Erstens, nicht zu schadenfroh sein. Im Duopol mit Airbus ist ein starkes Boeing unabdingbar, um dem imperfekten Markt noch ein Stückchen Wettbewerb zu sichern. Für Passagiere bedeutet das nämlich indirekt geringere Preise und mehr Innovation. Sollte Boeing verschwinden, dürfte das aufstrebende chinesische Comac langsam in die Lücke vordrängen, was im Westen mit der Politik kollidieren könnte.
Zweitens, wenn es um die eigene Sicherheit geht:Vermutlich einfach gar nicht darüber nachdenken. Fliegen bleibt im Vergleich der Transportmittel nach wie vor äußerst sicher und wird tendenziell von Jahr zu Jahr sicherer. Auch deswegen fallen die Boeing-Vorfälle so sehr auf. Bislang gab es 2024 keinen einzigen tödlichen Unfall. Eine Journalistin des US-Mediums Vox rechnet zusammen, dass in den letzten 10 Jahren zwei US-Amerikaner bei kommerziellen Flügen in den USA gestorben sind, gegenüber 365.000 Toten durch Verkehrsunfälle mit Autos. Fliegen bleibt also sicher. Und wenn du irgendwann auf deinem 10-Stunden-Flug die Schlafmaske von der Nase ziehst und auf ein großes Loch im Rumpf blickst, dann kannst du dich seelenruhig wieder dem Entertainmentsystem zuwenden: Irgendwer hat einfach wieder vergessen, eine Schraube festzuziehen.
Gut zu wissen: Wer dennoch auf Boeing- oder 737-MAX-Maschinen verzichten will, findet die Information über das Flugzeug meist bereits beim Buchungsprozess. Maschinen können sich allerdings kurz vor Abflug noch ändern, weswegen du den eigenen Flug z.B. zeitnah über Flightradar prüfen solltest.
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