July 13, 2025
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16 Minuten Lesezeit

Wie Demokratien funktionieren

Eine neue Partei in den USA? Zeit, für einen Blick auf zwei unterschiedliche Wahlsysteme und ihre Folgen.
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Blitzzusammenfassung_ (in 30 Sekunden)
  • Die Ankündigung einer neuen Parteigründung wirft ein Schlaglicht auf das Mehrheitswahlsystem ("winner-takes-all") in den USA.
  • Im Vergleich zum Verhältniswahlrecht (welches Sitze nach Stimmenanteil verteilt) hat es gewisse Vorteile, darunter stabile Mehrheiten, eine Einhegung von Populisten und weniger überproportionalen Einfluss für kleine Parteien.
  • Andersherum bietet das Verhältniswahlrecht mehr demokratische Abbildung, keine verlorenen Stimmen und aufgeteilte, da an Koalitionen geknüpfte Macht.
  • Das Mehrheitswahlrecht führt außerdem häufig zu Zweiparteiensystemen mit gemäßigten "Big-Tent"-Parteien, die den Medianwähler abzugreifen versuchen.
  • Das geschieht jedoch nicht immer: Die USA und Großbritannien sind – leicht unterschiedliche – Beispiele dafür, wie die Stärken des Mehrheitswahlrechts verloren gehen können.
  • Einen klaren Sieger zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl gibt es dennoch nicht.

Das System in den USA_

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Wird aus zwei etwa bald drei? In den USA kündigt Unternehmer und Rechtsaußenpolitiker Elon Musk die Gründung einer "America Party" an. Über die Partei selbst gibt es wenig zu sagen: Noch ist unklar, ob sie überhaupt entsteht, geschweige denn, ob sie relevant wird. In diesem Sinne sind auch ihre Positionen bislang recht egal, wobei Musk Schuldensenkung versprach und vermutlich einen charakteristischen Mix aus Rechtspopulismus und Technolibertarismus einfließen lassen würde.

Mehr Parteien, als du denkst

Spannender ist, dass die Drohung ein Schlaglicht auf das Parteiensystem der USA wirft. Dort existieren bekannterweise zwei dominante Parteien, die Demokraten und die Republikaner. Etwas weniger bekannt ist das bunte Bouquet aus Parteien, das drumherum existiert: Da wären die Libertären und die Grünen, das zentristische No Labels, die marxistische-leninistische Partei für Sozialismus und Befreiung, die christlich-rechtskonservative Constitution Party und fünf weitere Parteien, die in mehreren Bundesstaaten Zugang zu den Stimmzetteln ("Ballot Access") haben. Zählt man die in einem einzigen Bundesstaat agierenden Parteien, kommen 25 hinzu. Und ignoriert man den Ballot Access, gibt es noch einmal mindestens 29 aktive Parteien – davon übrigens auffällig viele linksradikal oder auf Marijuana-Legalisierung spezialisiert. In der breitesten Zählung haben die USA somit mindestens 66 aktive Parteien.

Der "Ballot Access" ist nicht trivial, denn die USA machen es kleinen Parteien ohne existierende Abgeordnete schwer, Zugang zu den Wählern zu bekommen. Die Regeln dafür sind komplex und variieren von Bundesstaat zu Bundesstaat. Parteien müssen meist binnen recht kurzer Zeit eine hohe Zahl an Unterschriften (i.d.R. Zehntausende) sammeln. In Michigan sind es nur 12.000, in Florida dagegen 145.000.

In Deutschland sind etablierte Parteien – definiert durch fünf Abgeordnete in Bundestag oder einem Landtag – ebenfalls automatisch zur Bundestagswahl zugelassen. Kleinparteien müssen hingegen formelle Anforderungen erfüllen, welche die Wahlleitung prüft, und Unterstützungsunterschriften sammeln: Für eine Landesliste 2.000 Unterschriften (bzw. 0,1 Prozent der Wahlberechtigten, insofern niedriger), für einen Kreiswahlvorschlag 200. Wer an Landtagswahlen landesweit teilnehmen möchte, muss zwischen 100 (Mecklenburg-Vorpommern) und ca. 8.300 (Bayern) Unterschriften vorlegen. Das sind mancherorts fixe Ziele, mancherorts entsprechen sie z.B. einem Tausendstel der Wahlberechtigten bei der letzten Wahl. Zum Vergleich: Würde Bayern prozentual dieselbe Anforderung wie Florida stellen, müsste eine Kleinpartei im Freistaat 82.000 Unterschriften einsammeln.

Die USA machen es Kleinparteien also auffällig schwer. Entsprechend gibt es derzeit auch nur zwei Kleinparteien mit Abgeordneten auf Landesebene: Die Forward Party, deren einziger Landessenator von den Republikanern übergelaufen war, und die Vermont Progressive Party, welche in Vermont fünf Abgeordnete stellt (und mit welcher Bernie Sanders assoziiert war). Die Libertären und die Grünen haben in der Vergangenheit Abgeordnete gestellt (meist Überläufer der zwei großen Parteien), tun es aber aktuell nicht.

Mehrheits- oder Verhältniswahl_

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Die Mehrheitswahl

Kein Wunder: Die USA pflegen ein Mehrheitswahlsystem, oder passend auf Englisch: Winner-takes-all. Wer in einem Wahlkreis die meisten Stimmen erhält, gewinnt diesen für sich und zieht ins Parlament ein oder übernimmt die Präsidentschaft. Es gibt hierbei zwei unterschiedliche Modelle: Ein absolutes und ein relatives Mehrheitswahlsystem.

Bei der absoluten Mehrheitswahl muss ein Kandidat mehr als 50 Prozent der Stimmen – sprich, die Mehrheit – erlangen. Gelingt das in einer Wahlrunde nicht, weil mehr als zwei Parteien oder Kandidaten existieren, wird in der Regel eine Stichwahl zwischen den zwei stärksten abgehalten (so z.B. bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich und Polen). Eine Alternative ist, die Wahl als Präferenzwahl aufzusetzen, in welcher Wähler Kandidaten ranken konnten und die Wahlleitung somit in ihrer Auswertung eigenständig "Wahlrunden" abhalten kann (z.B. Australien).

Bei der relativen Mehrheitswahl genügt es, am meisten Stimmen zu erlangen, auch wenn es genaugenommen nicht die Mehrheit ist. Auf Englisch heißt es "First past the post" (wortwörtlich: "Wer als erstes die Ziellinie überquert") und stellt das wahre "winner-takes-all"-System dar. Es wird unter anderem in den USA und in Großbritannien angewandt und lässt sich häufig in präsidialen Demokratien antreffen.

Die Verhältniswahl

In Abgrenzung dazu steht das Verhältniswahlsystem: Hier werden die Wahlsieger möglichst genau anhand des Verhältnisses der erlangten Wahlstimmen ausgewählt. Es ist vor allem in parlamentarischen Demokratien in Europa und Lateinamerika beliebt. Eine Variation ist die personalisierte Verhältniswahl, wie sie in Deutschland existiert: Hier werden Verhältniswahl (die Listen der Zweitstimme) und Mehrheitswahl (die Wahlkreise der Erststimme) kombiniert, wobei das Mehrheitselement nichts daran ändert, dass die Gesamtsitze im Parlament per Verhältniswahl zusammengesetzt werden.

Der whathappened-Redaktion fällt seitens deutscher Beobachter gelegentlich eine gewisse Häme gegenüber Mehrheitswahlsystemen anderswo auf. Auf den ersten Blick wirken deren Schwächen im Vergleich zur Verhältniswahl intuitiv: Das Verhältniswahlrecht bildet den Wählerwillen direkt im Parlament ab; verpasst einzelnen Wählerstimmen theoretisch mehr Bedeutung (da sie nicht "nutzlos" sein können – es sei denn, Sonderregeln wie Sperrklauseln greifen); es bietet kleineren Parteien mehr Mitwirkungsfähigkeit, macht Spielereien mit strategischen Wahlkreiszuschnitten ("Gerrymandering") zwecklos; und zwingt Parteien zur Zusammenarbeit und Mehrheitenbildung, da sie vermutlich nur mittels Koalitionen eine Regierungsmehrheit erlangen können – was auch dafür sorgt, dass Minderheiten besser geschützt und repräsentiert sind.

Vor- und Nachteile des Mehrheitssystems

Ganz anders das Mehrheitswahlsystem. Eine Partei könnte theoretisch in jedem Wahlkreis 49 Prozent der Stimmen erhalten und dennoch keinerlei Repräsentation und Macht besitzen; die Beinahe-Hälfte der Wähler, welche für die Verliererpartei abgestimmt hatten, hätte im Grunde zu Hause bleiben können. Die Siegerpartei besitzt – rein legislativ betrachtet – absolute Macht. Und Wahlkreiszuschnitte werden zum fragwürdigen Schlachtfeld, denn die Partei, die jeden Wahlkreis so zuschneidet, dass sie überall auf 51 Prozent gelangt, hat die Wahl sicher. Das klingt nach politisch gefährlichen Anreizfunktionen und Demokratiedefizit.

Wenig überraschend besitzt jedoch auch das Mehrheitswahlsystem Vorteile. Regierungsbildungen sind kinderleicht, denn eine Partei hat (fast) garantiert die Mehrheit. Auch die Regierungsarbeit wird mangels Koalition erleichtert und ist für den Wähler zudem deutlich einfacher attribuierbar: Welche Ampelpartei trägt nun am meisten Schuld am Aus der Koalition, welche hat am besten und welche hat am schlechtesten gearbeitet? In einem Mehrheitswahlsystem würde sich die Frage nicht stellen, da nur eine Partei regiert – und wenn der Wähler sie abstrafen will, wählt er sie ab, ohne dass sie sich als Juniorpartner einer Koalition doch in die nächste Regierung rettet. Der Wählerwille könnte auch insofern besser repräsentiert sein, als kleine Parteien keine überproportionale Macht als Zünglein der Koalitionswaage ausüben. Und die gewählte Regierungspartei kann sich bei ihren Wahlversprechen nicht hinter den Kompromissen einer Koalition verstecken.

Zweiparteiensystem_

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Politischer Cartoon mit dem Titel "Awaiting the third party" aus dem Jahr 1906. Der Elefant steht für die Republikaner, der Esel für die Demokraten. Quelle: Library of Congress, picryl

Duvergers Gesetz

Eine besondere Wirkung eines Mehrheitswahlrechts ist, dass es ein Zweiparteiensystem fördert. Der Grund ist denkbar einfach: Wenn "First past the post" gilt, hat jede Stimme für eine kleinere Partei ein großes Risiko, nutzlos zu sein. Das einzige langfristig stabile Gleichgewicht scheint also eines aus exakt zwei Parteien: Eine Dritte könnte zwar auftauchen, doch in dem Moment, in dem eine Partei zu schwächeln beginnt, haben Wähler wieder einen strategischen Anreiz, zu einer von zwei Parteien zurückzukehren, die ihnen ideologisch näher steht. In der Politiktheorie wird das von Duvergers Gesetz beschrieben.

Sehen wir das in der Realität? In den USA, tatsächlich. Dort gibt es seit jeher im Grunde nur zwei relevante Parteien. Gelegentlich gab es eine Umbruchphase, in welcher eine dritte Partei auftaucht (oder eine von zweien verschwindet), doch schlussendlich kehrte es stets zum Zweiergleichgewicht zurück. Anfangs waren es Federalists und die Democratic-Republicans, dann die Demokraten und die Whig-Partei, bis die Republikaner 1856 die Whigs als Partei der progressiveren Bevölkerungshälfte ersetzten. Seitdem sind Republikaner und Demokraten die dominanten Parteien. Das letzte Mal, dass sich auf nationaler Ebene eine Wachablösung andeutete, war 1912, als die Progressive Party von Ex-Präsident Theodore Roosevelt an den Republikanern vorbeizog, jedoch gegen die Demokraten unter Woodrow Wilson verlor. Die Progressives etablierten sich nicht und verschwanden schnell wieder von der Bildfläche. Ein jüngerer Achtungserfolg gelang 1992 dem unabhängigen Kandidaten Ross Perot, welcher 20 Prozent der Stimmen einsammelte – doch keinen Bundesstaat für sich gewann und auch keine neue Partei anführte.

Gut zu wissen: Gänzlich relevant sind Drittparteien in den USA dennoch nicht. Bei den äußerst knappen Rennen zwischen Republikanern und Demokraten können sie als Störer fungieren, welche eine Seite im "Winner takes all" zum Verlierer machen.

Auch andere zu erwartende Aspekte eines Mehrheitssystems finden sich in den USA. "Regierungsbildung" ist kein relevantes Konzept; Kompromisse gibt es nur zwischen parteiinternen Fraktionen. Und Gerrymandering, also der Kampf um das Ziehen von Wahlbezirken, nimmt fast krankhafte Züge an. Laut einer Harvard-Studie aus dem Jahr 2023 hat Gerrymandering kaum Auswirkungen auf das nationale Wahlergebnis – weil sich die Manipulationsbemühungen beider Parteien ausgleichen. Die Republikaner hätten netto einen "manipulierten" Vorteil in Höhe von 2 Sitzen im 435-köpfigen Repräsentantenhaus erlangt. Da Gerrymandering jedoch sichere Sitze kreiert, senkt es die Anreize für betroffene Politiker, auf den Wählerwillen zu achten. Gerrymandering schwächt also nicht unbedingt eine bestimmte Partei (insofern es beide ähnlich stark betreiben), doch macht die Politik auf der Sachebene weniger repräsentativ.

Das System in Großbritannien_

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Nigel Farage. Quelle: Gage Skidmore, wikimedia

Zweieinhalbparteiensystem

Es gibt auch Gegenbeispiele für Duvergers Gesetz, und ein gutes dafür ist Großbritannien. Obwohl dort ebenfalls "First past the post" gilt, ist das Land nicht so recht ein Zweiparteiensystem – zumindest nicht mehr. Bis 1920 duellierten sich tatsächlich die Conservatives und die Liberals; dann wurden letztere von der Labour-Partei an den Rand gedrängt. Noch heute dominieren Conservatives und Labour zwar das Parlament, doch andere Parteien sammeln regelmäßig eine Menge an Sitzen und Wählerstimmen ein, die in den USA undenkbar wären. In der Wahl 2024 eroberten "Drittparteien" 18 Prozent der Sitze und beachtliche 42,6 Prozent der Stimmen. 2019 waren es immerhin 13 Prozent der Sitze und 24 Prozent der Stimmen, was auch den vorherigen Wahlen entspricht. Nicht nur das: Mehrfach in der jüngeren Geschichte Großbritanniens war eine Regierung auf die Unterstützung der Liberals (heute Liberal Democrats) angewiesen und fünfmal gab es sogar eine vollwertige Koalition, zuletzt 2010 bis 2015. Großbritanniens Mehrheitssystem bringt also nicht immer stabile Mehrheiten hervor.

Wieso läuft es in Großbritannien anders als in den USA? Zum Teil hat das damit zu tun, dass Parteien erfolgreich regionale Hochburgen aufbauen konnten. Die Parteien in Schottland und Wales können sich eines gewissen Zulaufs sicher sein, auch wenn ihren Wählern klar ist, dass sie niemals die Regierung ganz Großbritanniens stellen werden. Die Liberal Democrats besitzen urbane Bastionen und eine historische Verankerung in der Bildungsschicht des Landes. Nicht so recht in das Konzept passt jedoch eine andere Partei: Reform UK.

Reform UK wirbelt auf

Reform UK ist eine rechtspopulistische Partei des Brexit-Architekten Nigel Farage. Sie ist weder regional konzentriert noch historisch verankert; im Gegenteil, sie wurde erst 2018 gegründet. Der Erfolg der Partei geht mittelbar auf die "name recognition" von Farage zurück, doch hängt fundamental damit zusammen, dass sie erfolgreich eine politische Marktlücke entdeckt hat. Ihr Mix aus heftiger Anti-Migrationspolitik, kulturkriegerischer Klimapolitik-Skepsis, Institutionenkritik und populistische Wirtschaftspolitik brachte ihr in der Wahl 2024 14 Prozent der Stimmen ein  – das beste Ergebnis einer Drittpartei seit langem. In Sitze übersetzte sich das aufgrund "First past the post" jedoch nicht. Die Partei tröstet sich daran, dass sie inzwischen in den Umfragen stärkste Kraft ist, also mindestens vorübergehend tatsächlich das Duopol von Labour und Conservatives bezwungen hat.

Gut zu wissen: Wenig überraschend plädieren die britischen Drittparteien allesamt für Wahlreformen, welche First-past-the-post mit einem Verhältniswahlsystem ersetzen oder es zumindest annähern würden.

Der Erfolg von Reform UK ist im Kontext des Mehrheitswahlrechts interessant. Zwei Interpretationen sind denkbar: Womöglich hält eine "abgeschwächte" Version von Duvergers Gesetz, nach welcher Großbritannien eine Art "Zweieinhalb-Parteien-System" ist – zwei dominante Parteien und ein paar moderat relevante Drittparteien, welche dank regionalen oder historischen Pfadabhängigkeiten einen Existenzgrund bewahren. Dieses System geht durch eine vorübergehende Umbruchphase. Reform UK schafft es darin entweder, die Conservatives zu ersetzen, oder es verschwindet nach einigen Achtungserfolgen wieder von der Bildfläche. Die zweite Option ist, dass Duvergers Gesetz in Großbritannien zerfällt und das Parteiensystem tatsächlich auf längere Sicht zersplitterter bleibt. Hier würde Reform UK neben den Conservatives, Labour und den übrigen Parteien existieren. Das ist schwierig vorstellbar, weil die strategischen Anreize für eine Konsolidierung in einem First-past-the-post-System sehr groß sind – doch es ist nicht unmöglich.

Gut zu wissen: Da Reform UK inzwischen in den Umfragen stärkste Kraft ist und damit grob gesagt auf einem Niveau mit Labour und den Conservatives, ist die nächste Parlamentswahl extrem schwierig vorherzusagen. Es ist das eine, zu modellieren, ob Labour oder Conservatives aus einigen Hundert Münzwürfen (sprich, den First-past-the-post-Wettbewerben in den Wahlkreisen) als wahrscheinlicherer Gesamtsieger hervorgehen. Das für drei ähnlich starke Parteien zu tun, ist dagegen hochkomplex und fehleranfällig. Behält Reform UK seinen Höhenflug also bis zur nächsten Wahl (vermutlich 2029) bei, wird es eine der uneindeutigsten Wahlen Großbritanniens seit Jahrzehnten.

Big Tent (No More?)_

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Trump-Rally in Florida, 2019. Quelle: Executive Office of the President of the United States


Der Vergleich zu den USA bietet sich an. Auch dort erkannte ein politisches Projekt eine Marktlücke und nutzte sie hochwirksam aus: die Trumpisten. Sie bildeten allerdings keine neue Partei, sondern kaperten eine der zwei dominierenden von innen. Das hat strategische Gründe: Sowohl in Großbritannien als auch in den USA ist es schwer, eine Kleinpartei in den Kampf gegen zwei Riesen zu führen – ein Kampf, welcher spielstrategisch paradoxerweise erst dann Sinn ergeben sollte, wenn er bereits gewonnen ist. In den USA ist er allerdings noch deutlich schwerer: Es ist komplexer für Drittparteien, überhaupt auf die Wahlzettel zu gelangen; schaffen sie das, müssen sie an aggressivem Gerrymandering, einer extrem aktiven Spendenkultur zugunsten der etablierten Parteien und einem auf die etablierten Parteien fokussierten Medienzyklus vorbei. Und zu guter Letzt existiert in den USA noch viel weniger eine historisch gewachsene "Drittparteienkultur", wie sie in Großbritannien besteht. Also verstand Donald Trump 2016, dass sein Weg zur Präsidentschaft innerhalb der Republikaner am einfachsten war.

Medianwählertheorem


Die Entwicklung rund um Reform UK und die Trumpisten wirft ein interessantes Schlaglicht auf eine andere Funktion von Mehrheitswahlsystemen – und wie sie scheitern kann. Es geht um das Medianwählertheorem (häufiger auf Englisch: median voter theorem). Es besagt, dass in einem System mit (der Einfachheit halber) zwei Parteien die jeweiligen Kandidaten ein strategisches Interesse daran haben, ihre Positionen anhand des Medianwählers auszurichten – also eine politische Zentrumsposition einzunehmen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass halbwegs rationale, strategische Wähler den Kandidaten wählen, der ihnen ideell am nächsten steht. Da radikale Positionen definitionsgemäß von weniger Wählern vertreten werden, erhält der radikalere Kandidat eine Minderheit der Stimmen; der moderatere Kandidat eine Mehrheit. Das schafft für beide Parteien einen Anreiz, moderate Positionen in der Nähe des Medianwählers einzunehmen und die Wahlbevölkerung unter sich aufzuteilen.

Gut zu wissen: Das Medianwählertheorem funktioniert im Prinzip auch für Mehrparteiensysteme, muss dort allerdings mehrdimensional dargestellt werden und ist komplexer.


Das Medianwählertheorem erklärt also, warum wir in einem Mehrheitswahlsystem mit zwei Parteien vermuten würden, dass beide relativ moderat sind. Die Mehrheitswahl fördert damit die Bildung von "Big Tent"-Parteien, also großen Zelten. Gemeint ist, dass innerhalb einer Partei zahlreiche ideologische Flügel existieren. Linkspopulisten, Sozialdemokraten, moderne Progressive, Grüne und etwas linkere Konservative teilen sich das Zelt der eher linken Partei; Rechtspopulisten, Nationalkonservative und Konservative teilen sich das Zelt der eher rechten Partei. Ein Austritt ergäbe für keine Fraktion Sinn, da sie als separate Partei im Zweiparteiensystem keine Chance auf Anschluss hätte; lieber bewahren sie also ihren Einfluss innerhalb einer der zwei großen Parteien. Der ideologische Streit verlagert sich von der Öffentlichkeit in die Parteien – und populistische sowie radikale Elemente können von Parteistrukturen gezähmt werden.


Das ist also eine weitere Funktion und ein theoretischer Vorteil von Mehrheitssystemen. Sie können Radikalisierung, Polarisierung und Populismus reduzieren, indem sie die entsprechenden Fraktionen wahlstrategisch in große Zelte zwingen und dort der moderaten Mehrheit unterordnen. In der Praxis lässt und ließ sich das durchaus beobachten: Die Positionen von Republikanern und Demokraten in den USA und Conservatives und Labour in Großbritannien waren längste Zeit gar nicht allzu weit entfernt voneinander und insgesamt ziemlich moderat, eben nah am Medianwähler. Und radikale Elemente schafften es selten an die Oberfläche, weil sie im großen Zelt untergeordnet waren.

Gut zu wissen: Auch anderswo mit Mehrheitswahlsystemen existiert die Dynamik eher moderater Big-Tent-Parteien. Ein Beispiel ist Japan, wo die Liberaldemokratische Partei (LDP) ein dermaßen großes Zelt ist, dass sie noch fast nie abgewählt worden ist. Das geht übrigens auf die USA zurück: Sie drängten nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst fast alle zentristisch-konservativen Parteien Japans zur Fusion, um eine stabile Big-Tent-Partei und ein Bollwerk gegen kommunistischen Einfluss zu schaffen. In Verhältniswahlsystemen können Big-Tent-Parteien zwar auch existieren, sind aber weniger stabil: Die Rechtspopulisten hält weniger ab, sich aus der großen konservativen Partei abzutrennen und eigens in Rennen zu gehen.

Die Radikalen übernehmen das Zelt

Unter Trump ist diese Mäßigungsdynamik in den USA teilweise zusammengebrochen, so wie in Großbritannien mit der Brexit-Bewegung. Die Republikaner haben sich kräftig nach rechts bewegt und offenbar vom Medianwähler entfernt; Trumps Positionen schneiden in Blindtests regelmäßig schlechter ab als jene der Demokraten. Dafür lassen sich viele Gründe diskutieren: Radikalere Wähler lassen sich eher mobilisieren, was Parteien gerade in Momenten großer Unzufriedenheit, Verunsicherung oder von Vertrauensverlust in der Bevölkerung mehr nach außen bewegen kann. Gesellschaftliche Polarisierung könnte Wähler eher nach emotionalen oder Identitätskriterien entscheiden lassen, was inhaltliche Mäßigung für die Parteien weniger relevant (oder sogar hinderlich) macht. Sind die radikalen Lager auf beiden Seiten einmal groß und selbstbewusst genug (wenngleich immer noch eine Minderheit), stellt sich sogar eine neue Dynamik ein, in welcher es für beide Parteien förderlich ist, radikalere Positionen zu übernehmen: Das radikale Wählerlager ist mobilisierbarer als das moderate; und der eigene Schritt weg vom Medianwähler kann von der Gegenpartei nicht ausgenutzt werden, da diese ja ihre eigenen radikaleren Wähler nicht vergraulen möchte.

Ein Fazit_

(2,5 Minuten Lesezeit)

Die Risiken

Zusammengefasst: Das Mehrheitswahlsystem, welches über ein Zweiparteiensystem mit Big-Tent-Parteien eigentlich für Mäßigung sorgen und Populisten einhegen sollte, gerät plötzlich zu deren Steigbügelhaltern. Sie kapern erfolgreich eine oder beide Parteien – und erhalten im Falle eines Wahlsieges die vollständige legislative oder exekutive Macht.

Das Verhältniswahlrecht erlebt dieses Problem so nicht oder nur selten. Es gibt schließlich nicht die eine große Partei, deren Übernahme die Macht direkt in greifbare Nähe bringt; und ein Wahlsieg bedeutet nicht automatisch vollständige Kontrolle. Das bedeutet nicht, dass ein Verhältniswahlrecht nicht eigene Probleme mitbringt.

Das Verhältniswahlrecht fördert die Bildung von vielen Parteien. Sobald eine innerparteiliche Fraktion stark genug ist, hat sie einen Anreiz, sich abzuspalten bzw. sich in einer existierenden Kleinpartei zu konsolidieren – siehe AfD, BSW oder Reform UK. Eine zerstückelte Parteienlandschaft kann die Folge sein, welche für den Wähler schwierig zu navigieren ist. Davon profitieren wohl tendenziell populistische Parteien, welche sich lautstark und markant vermarkten können.

Dazu ist der Aspekt der Regierungsbildung und -effektivität denkbar relevant. Die zerstückelte Parteienlandschaft eines Verhältniswahlrechts kann die Regierungsbildung erschweren – Belgien konnte ab 2018 rekordträchtige 652 Tage lang (!) keine Koalition finden. Steht endlich eine Regierung, kann diese äußerst instabil sein: Israels Acht-Parteien-Koalition 2021 hielt etwa nur anderthalb Jahre und damit sogar länger als erwartet.

Diese Dysfunktionalität kann dann zu einem Vertrauensverlust und Verärgerung bei Wählern führen, was politische Ränder und Populisten stärkt. So ist es wohl keine allzu riskante Annahme, dass die Schwierigkeiten der ideologisch diversen Ampelkoalition AfD, Linke und BSW tendenziell gestärkt hatten. Ein noch prägnanteres Beispiel ist die Weimarer Republik, zu deren Lebzeiten stets acht große Parteien im Reichstag saßen und bis zu 14 Prozent der Stimmen an "Sonstige" gingen (diese Erfahrung führte zur Einführung der Sperrklausel in der späteren Bundesrepublik). In 14 Jahren erlebte die Weimarer Republik 20 unterschiedliche Regierungen, bevor die 21. Regierung sie final abwickelte.

Ein Fazit

Was bleibt also? Zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht gibt es keinen klaren Gewinner. Beide haben Vor- und Nachteile; und beide scheitern mitunter an ihren eigenen Ansprüchen, etwa das Mehrheitssystem darin, klare Mehrheiten hervorzubringen (Großbritannien), radikale Elemente kleinzuhalten (USA) oder das Parteiensystem zu stabilisieren (Großbritannien und, in diesem Explainer nicht vertieft, Frankreich).

Großbritannien könnte sich gerade in einer Umbruchphase befinden, in der mit Reform UK tatsächlich eine neue rechte Partei das Zepter übernimmt – so wie einst Labour von den Liberals auf der progressiven Seite. Oder es handelt sich um ein kurzes Aufbäumen einer zeitgemäßen, radikaleren Fraktion, die bald wieder verschwindet. Oder um eine doch nachhaltige Zerstückelung der britischen Parteienlandschaft, in welcher sich plötzlich dreieinhalb Parteien in extrem schwierig vorhersehbaren Wahlen darum streiten, wer am häufigsten "first past the post" sein kann.

In den USA ist eine Zerstückelung der Parteienlandschaft sehr unwahrscheinlich. Sie gab es zuletzt vor knapp 100 Jahren und die institutionellen und politisch-kulturellen Hürden sind weitaus höher als in Großbritannien, geschweige denn Deutschland. Ob die "American Party" von Elon Musk jemals wieder eine Erwähnung wert sein wird, ist also fraglich. Doch das ist im Grunde auch zweitrangig: Die Trumpisten in den USA beweisen seit 2016, wie sich ein stabiles Parteienduopol von einer radikaleren Fraktion erobern lässt, ganz ohne Parteineugründung.